Murgang im Kiental Raphael Weber
17.10.2018 Klimakrise

Interview Nils Hählen: «Die Natur setzt neue Akzente, die wir nur noch akzeptieren können»

Extreme Naturereignisse seien stark am Zunehmen, sagt Nils Hählen, Präsident des Vereins Fachleute Naturgefahren Schweiz. Besonders in den Alpen bestehe eine grosse Dynamik, gegen die der Mensch mitunter nichts mehr ausrichten kann.

Pro Natura Magazin: Bergstürze, Lawinen oder Überschwemmungen hat es schon immer gegeben. Kann man dennoch sagen, dass die Gefährdung durch natürliche Extremereignisse insgesamt zugenommen hat?

Nils Hählen: Eine Veränderung stellen wir zweifellos fest, wir befinden uns in einer deutlichen Zunahme extremer Naturereignisse, das belegen auch viele Studien. Langzeitstudien zeigen aber auch, dass es schon immer zyklische Zunahmen von grossen Ereignissen gegeben hat, etwa von Hochwassern. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir uns in einem solchen Zyklus befinden oder ob wir schon die Folgen der Klimaveränderung sehen.

Wahrscheinlich ist es beides zusammen, doch wissenschaftlich wird sich diese Frage erst rückblickend beantworten lassen. Noch viel deutlicher als die grossen Ereignisse hat sich in den letzten Jahrzehnten die Schadenssumme erhöht, aber das ist auch eine Folge der Entwicklung von Siedlung und Infrastruktur. Dasselbe Ereignis verursacht heute am gleichen Ort einen viel grösseren Schaden als noch vor einigen Jahrzehnten.

Haben heutige Naturereignisse auch andere Eigenschaften oder unterscheidet sich nur die statistische Zunahme gegenüber früheren Ereignissen?

Das ist schwierig zu beurteilen, weil unsere Messdaten oft «nur» 100 Jahre zurückreichen. Aber selbst innerhalb dieser Zeitspanne lassen sich Unterschiede feststellen. Bei der Kander etwa hatten wir in den letzten zwölf Jahren vier derart heftige Hochwasser, wie wir sie zuvor in 100 Jahren nie gehabt hatten. So etwas fällt auf.

Ist die Schweiz als Alpenstaat besonders von diesen Veränderungen betroffen, weil die Gletscher schmelzen und der Permafrost zurückgeht?

Ja sicherlich. Die Temperaturerhöhung in den Alpen ist gegenüber dem globalen Mittel doppelt so hoch. Und der Gletscherrückgang ist eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung. Anders ist es beim Permafrost, den man nicht von blossem Auge sieht und zu dem wir keine langfristigen Vergleichswerte haben. Aber in Gebieten, in denen wir von einem Rückgang des Permafrosts ausgehen, ist eine Häufung von Sturzprozessen festzustellen. Wir sehen auch, dass die Gletscherbäche viel mehr Geschiebe als früher mitführen; dieses bringen sie von den immer grösseren Gletschervorfeldern mit.

Unsere Landschaft ist also in grosser Bewegung?

Während meines Studiums und des Beginns meiner beruflichen Laufbahn habe ich die Landschaft immer als etwas Statisches verstanden. Mittlerweile stelle ich in den Alpen aber eine enorme Dynamik in der Landschaft fest, da gibts starke Veränderungen. Innerhalb weniger Jahre können Landschaften ein völliges anderes Erscheinungsbild erhalten. Das benötigt ein Umdenken; durch die natürlichen Prozesse ist ein grosser Wandel im Gang.

Nehmen das viele Menschen wahr?

Den Rückgang der Gletscher kann niemand anzweifeln, das ist zu offensichtlich. Wenn wir aber zum Beispiel talabwärts eine starke Zunahme des Geschiebes vorhersagen, zweifeln das viele Leute an – bis es dann tatsächlich so weit ist.

Bringt das Fachleute wie Sie in ein Dilemma? Einerseits können Sie als Schwarzmaler kritisiert werden, andererseits können nach einem Schadenereignis schnell Stimmen laut werden, wonach Sie nicht deutlich genug gewarnt haben.

Wir versuchen weder übervorsichtig zu sein noch etwas schönzureden. Grundsätzlich gilt, dass wir einzelne Ereignisse nur schwierig vorhersagen können. Wir stellen langfristige Trends fest, wir können aber unmöglich konkret sagen, wie viel mehr Geschiebe ein Murgang in 50 oder 100 Jahren bringt. Deshalb können wir nicht einfach vorsorglich alle Schutzbauen um die Hälfte vergrössern lassen. Wir versuchen anhand vergangener und möglicher Ereignisse Vorkehrungen zu treffen, die möglichst flexibel erweitert werden können und sich bei Überlastung gutmütig verhalten.

Treffen Sie bei Ihrer Arbeit auf ein Bewusstsein, dass wir als Menschen selber zu den Verursachern dieser Veränderungen gehören?

In der Projektarbeit ist das kaum ein Thema; da werden nur die konkreten Schutzmassnahmen diskutiert. Bei einem Bier nach der Projektsitzung hört man solche Überlegungen schon eher – aber ebenso Skeptiker, die keinen Einfluss des Menschen auf den Klimawandel vermuten.

Natürliche Dynamik hat für die Natur auch positive Folgen. Ist es schwierig, die Grenze zu ziehen zwischen dem Zulassen und dem Verhindern dieser Dynamik?

Im Katastrophenschutz gibt es viele Kriterien zu beachten, die beiden genannten gehören dazu und können durchaus im Gegensatz zueinander stehen. Beim Hochwasserschutz zum Beispiel gibt es vereinfacht gesagt zwei Ansätze: Einerseits können durch den Bau hoher Ufermauern möglichst grosse Wassermengen durchgeleitet werden, damit die bisherige Landnutzung möglichst wenig beeinträchtigt wird. Andererseits können grosse Uferzonen geschaffen und dem natürlichen Prozess möglichst viel Raum gegeben werden; dadurch entsteht bei den Schutzmassnahmen nur wenig Aufwand, hingegen sorgen dann Nutzungsverzichte oder Einschränkungen für Widerstand. Oft funktioniert das zweite Szenario nur bei vollendeten Tatsachen, also wenn der Schaden bereits entstanden ist und sich die Wiederherstellung des Landes gar nicht mehr rechnet. In Gadmen etwa, beim Zusammenfluss zwischen Wendenwasser und Steinwasser, wurde 2005 eine grosse Fläche mit Schlamm und Geröll geflutet. Dort war es schlicht zu aufwendig, den früheren Zustand wiederherzustellen. Die Natur hat neue Akzente gesetzt, die wir nur noch akzeptieren konnten.

Zeigt das, dass sich der Mensch zwischendurch den Kräften der Natur unterordnen muss, anstatt immer alles zu orchestrieren versuchen?

Wir Menschen versuchen immer alles zu managen. Aber ich habe mittlerweile einige Ereignisse erlebt, bei denen wir nur noch feststellen konnten, dass die Natur stärker ist. Da muss die Einsicht kommen, dass man jetzt nur noch zurückstehen und nichts mehr bewirken kann.

Wo war das der Fall?

Beispielsweise bei den grossen Murgängen in Guttannen. Dort ist innerhalb von zwei Jahren eine ganz andere Landschaft entstanden, und ein beinahe 300-jähriges Haus musste aufgegeben werden. Niemand hat da noch davon gesprochen, den alten Zustand wiederherzustellen. Das wäre weder technisch noch ökonomisch machbar gewesen, weil die neue Situation so völlig anders gewesen ist.

Stellt bei Ihnen, als Experte für Risikobeurteilungen, die Natur primär ein Gefährdungspotenzial dar oder empfinden Sie in Ihrer Arbeit auch eine Ehrfurcht vor den Kräften der Natur?

Wenn man schon grosse Ereignisse hautnah erlebt und nicht nur am Computer durchmodelliert hat, empfindet man sicherlich beide Aspekte. Und das ist auch gut so.

RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin

Über Nils Hählen

Seit 2010 präsidiert Nils Hählen (42) den Verein Fachleute Naturgefahren Schweiz (FAN). Der Forstingenieur leitet seit 2014 die Abteilung Naturgefahren im Amt für Wald des Kantons Bern. Zuvor arbeitete er acht Jahre lang als Wasserbauingenieur im kantonalen Tiefbauamt. Er wohnt mit seiner Familie in Spiez.

Website Fachleute Naturgefahren Schweiz
 

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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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