Vergeletto Raphael Weber
15.05.2018

«Wie ein Rettungsprogramm für diese abgelegene Gegend»

Cristiano Terribilini (40) ist Gemeindepräsident von Onsernone und Vizepräsident des Parkrats des Nationalparkkandidaten im Locarnese. Im Interview äussert er sich zum Projekt, über das die Bevölkerung am 10. Juni abstimmen wird.

Pro Natura Magazin: Herr Terribilini, warum engagieren Sie sich als Gemeindevertreter an vorderster Front für den neuen Nationalpark?

Cristiano Terribilini: Dieses Engagement hängt direkt mit meinen Erfahrungen in 20 Jahren Gemeindearbeit zusammen. Im Onsernone, aber auch im Centovalli, stellen wir eine Rückwärtsentwicklung der Bevölkerung fest. Es gibt einen numerischen Rückgang, aber auch einen sozialen, weil es vor Ort weniger Arbeit und weniger Zusammenhalt gibt.

Was hat das mit dem Nationalpark zu tun?

Der Nationalpark ist wie ein Rettungsprogramm für diese abgelegene Gegend – eine einmalige Chance. Wir wollen die Natur schützen, aber auch den Lebensraum der Menschen. Das geht Hand in Hand. Wir wollen als Nationalpark für Touristen attraktiv sein, aber keinen Massentourismus, sondern eher die Saison ein wenig ausdehnen. Und zugleich wollen wir die Natur schützen und die Reste der Berglandwirtschaft sowie unsere Kulturlandschaft pflegen.

Was ist der besondere Naturwert dieses Nationalparks?

Der Nutzen für die Natur ist gegeben. In den Kernzonen wird die Natur ihrer freien Entwicklung überlassen. Doch um diese Kernzonen herum haben wir die Umgebungszone, in der es zwar keine neuen Restriktionen gibt, doch ein qualitativer Ansatz gefragt ist. Denken wir an ein Rustico, das erneuert wird. Dank des Nationalparks wird es Mittel geben, dies auf besonders nachhaltige und rücksichtsvolle Art zu tun.

In den Kernzonen bleibt Alp- und Weidwirtschaft möglich; Hunde dürfen an der Leine mitgeführt werden; Helikopter dürfen Material zu Alp- und Schützhütten bringen. Geht man da nicht zu weit?

Tatsächlich wurden auch für die Kernzonen einige Zugeständnisse gemacht, doch das Gesamtpaket ist eine hervorragende und massgeschneiderte Kompromisslösung. In der Kernzone dürfen nur markierte Wanderwege benutzt werden. Doch das Mitführen von Hunden kompromittiert nicht die natürliche Entwicklung dieser Gebiete. Und apropos Helikopter: Diese dürfen für ausgewählte Materialtransporte fliegen, nicht um jeden Morgen frische Brötchen auf die Hütte zu bringen.

Über den Nationalpark im Locarnese wird seit über 15 Jahren diskutiert. Warum hat das so lange gedauert?

Es ist wirklich eine lange Zeit. Aber dieser Prozess hat es ermöglicht, dass wir einen Park verwirklichen, der von der Basis getragen wird und nicht von oben verordnet ist. Dadurch konnten wir Einfluss auf die Ausarbeitung der eidgenössischen Pärkeverordnung nehmen, oder die Möglichkeit einer Verbindung mit parkähnlichen Gebieten in Italien schaffen, die inzwischen vom Bundesrat abgesegnet worden ist. Damit wird der Einzigartigkeit unserer Gegend Rechnung getragen. Das Onsernonetal hört politisch in Spruga auf, doch bildet die Natur eine Einheit mit dem italienischen Valle dei Bagni.

Was bringt ein Nationalpark konkret?

Anhand der Pilotprojekte wurde dies schon sehr deutlich. Ein historischer Wanderweg wie die Via delle Vose wurde instandgesetzt, genauso wie historische Terrassierungen, die für unsere Täler ein bedeutendes Kulturgut sind. Ich könnte viele weitere Beispiele aufzählen. Diese Arbeiten konnten nur dank der Unterstützung durch den Nationalparkkandidaten im Locarnese durchgeführt werden. Und Einwohner unserer Täler haben diese umgesetzt. 

Die Gegner des Nationalparks machen mit dem Slogan «teuer, schädlich, unnütz» mobil. Wie reagieren Sie auf die Argumente der Gegner?

Ich kann mit diesen Slogans wirklich nichts anfangen. Schädlich? Wir haben mit den Pilotprojekten aufgezeigt, was sich konkret und positiv machen lässt und auch Arbeitsplätze geschaffen. Teuer? Darüber kann man streiten, denn das Budget erreicht 5 Millionen Franken im Jahr. Doch die Gemeinden im Parkgebiet müssen nur 190‘000 Franken pro Jahr beisteuern. Für uns ist es also keineswegs teuer, sondern sehr vorteilhaft, da der Löwenanteil vom Bund kommt. Unnütz? Unser Territorium wird aufgewertet. Ich kann schlicht nicht nachvollziehen, was daran unnütz sein kann.

Der Bund bezahlt viel für den Nationalpark. Und wer zahlt, befiehlt, sagt ein Sprichwort, Wird Bern das Kommando im Nationalpark haben?

Absolut nicht. Die Gemeinden und die Patriziate, welche die Trägerschaft bilden, werden bestimmen; sie haben im Rat und somit im Park das Sagen. Und je nach Grüsse des Territoriums haben die Gemeinden mehr Sitze im Parkrat. Onsernone und Centovalli sind also besonders gut vertreten. Der Bund kontrolliert die Qualität des Projekts, wird schauen, ob die Mittel gut und gesetzmässig investiert sind. Und das scheint mir auch gerechtfertigt, wenn der Bund Geld spricht.

Grosse Teile zwischen Centovalli und Onserone sind ein Naturgebiet mit weitreichenden Waldreservaten. Die Vergandung nimmt zu. Braucht es überhaupt ein Nationalpark-Label für eine bereits wilde Gegend?

Die Natur ist effektiv wild. Die Rückkehr des Wolfs in den Alpenraum hängt bekanntlich mit dieser Entwicklung des Naturraums zusammen. Doch wir wollen, dass auch die Bevölkerung, die in den Tälern verblieben ist, von dieser Entwicklung profitiert. Und ein Nationalpark-Label ist die beste Lösung. Ich hoffe sehr, dass die Einwohner dereinst stolz auf dieses Markenzeichen sind. Es wird einen Kohäsionseffekt haben und gemeinschaftsbildend sein.

Sind Sie zuversichtlich, dass die Mehrheit der Bevölkerung am 10. Juni Ja sagen wird?

Ich denke Ja. Es wird kein einstimmiges Ergebnis sein, da es auch Skeptiker gibt. Jetzt ist es wichtig, dass die Gemeinden und ihre Vertreter als Promotoren in den nächsten Wochen das direkte Gespräch mit der Bevölkerung suchen. Wir müssen die Zweifel aus dem Weg räumen, die manche Gegner gestreut haben, indem sie etwa unzulässige Vergleiche mit dem Nationalpark im Engadin – einem eigentlichen Naturreservat – gezogen haben.

Welche sind ihre persönlichen Perlen im Nationalparkgebiet?

Da bin ich natürlich voreingenommen, weil ich aus Vergeletto komme: Das Vergeletto-Tal und die Alpen Salei, Arena und Porcaresc sind für mich die schönsten Stellen.

Der Journalist GERHARD LOB arbeitet als Tessiner Korrespondent für zahlreiche Medien.

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Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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