Olympia-Denkmal vor grauem Himmel Pro Natura
15.05.2018

«Wollt ihr 100 Millionen für ein Fest zahlen, ohne zu wissen, ob das reicht?»

Bei den beiden Olympia-Absagen in Graubünden hat er die Fäden gezogen, nun ist Stefan Grass zuversichtlich, dass sich auch der Kanton Wallis gegen eine Olympia-Kandidatur ausspricht – aber nicht nur aus Umweltgründen.

Pro Natura Magazin: Welche Parallelen ziehen Sie zwischen dem jetzigen Abstimmungskampf im Wallis und den seinerzeitigen Abstimmungen im Kanton Graubünden?

Stefan Grass: In Graubünden geht man mit dem politischen Gegner wohl respektvoller um, aber grundsätzlich bestehen die gleichen Fronten: Das offizielle Wallis – die Regierung, die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände – ist wie seinerzeit Graubünden für das Projekt. Gegenüber stehen die Umweltverbände und Rotgrün. Aber es gibt im Wallis Bruchlinien; die SVP und auch die SP sind gespalten.

Aufgrund der politischen Mehrheitsverhältnisse wäre ein Ja zur Olympia-Kandidatur also die logische Konsequenz.

Ja, aber entscheidend ist, was hinter vorgehaltener Hand gesagt wird, das war schon in Graubünden so. Wenige haben es öffentlich gewagt, sich gegen das offizielle Graubünden zu stellen. Aber aus zahlreichen persönlichen Rückmeldungen und aufgrund der Abstimmungsanalyse wissen wir, dass viele Leute heimlich ein Nein in die Urne gelegt haben. Dieses stille Nein hat den Ausschlag gegeben.

Und das wird sich im Wallis wiederholen?

Im Nachhinein zur verlorenen Kandidatur für die Winterspiele 2006 gab es im Wallis durchaus Stimmen, die froh waren, dass Turin den Zuschlag bekam. Denn der Tourismus hatte im Wallis nicht unter der Absage gelitten. Im Gegenteil: Die Hoteliers mussten nicht auf eine Saison verzichten, die Stammklientel wurde nicht vergrault, es wurden keine Bauruinen geschaffen wie in den Piemonter Bergtälern Susa und Chisone, die Bauwirtschaft hatte sich nicht überhitzt, die Immobilienpreise sind nicht massiv angestiegen.

Und falls einfach die Begeisterung für den Sport den Ausschlag geben sollte?

Keine olympische Abstimmung wird je durch Sporteuphorie gewonnen. Bei der vorletzten Olympia-Abstimmung stand mit Gian Gilli ein glaubhafter und authentischer Sportbotschafter an der Spitze der Bündner Kandidatur für 2022. Er besuchte alle Bündner Täler, war an 150 Veranstaltungen präsent, hatte ein riesiges Budget zur Verfügung – und konnte doch nur eine 47-Prozent-Zustimmung erwirken. Bei Sion 2026 aber wird die Kandidatur nicht einmal von Sportlern angeführt, sondern von zwei ausserkantonalen Politikern, die im Wallis kaum jemand kennt, und einem einschlägig bekannten Unternehmer, dem es um die Sicherung eigener Architektur-Projekte geht. Und es ist wieder ein reiner Männerklub.

Was gibt denn den Ausschlag?

Das Geld. Im ganzen Alpenraum ist die Ausgangslage etwa dieselbe: Jeweils 20 Prozent sind prinzipiell für und 20 Prozent gegen Olympische Spiele. Zwischen diesen Polen befindet sich rund 60 Prozent ohne direkte Interessen. In diesem Lager sind mehrheitlich Frauen und Senioren skeptisch, dass man so viel Steuergeld ausgibt, ohne dafür einen sicheren Gegenwert zu erhalten. Auch im Wallis ist die entscheidende Frage: Wollt ihr 100 Millionen Franken an ein einmaliges Sportfest zahlen, ohne zu wissen, ob das reicht? Und dieses Mal steht kein Bundesrat hinter der Kandidatur, der eine Defizitgarantie verspricht wie für Graubünden 2022.

Gerade deshalb wirbt das Komitee mit bescheidenen Spielen, die weitgehend bestehende Infrastruktur nutzen.

Selbst bestehende Infrastruktur muss nach- und aufgerüstet werden. Es müssen riesige Athletendörfer gebaut werden. Und der IOC-Tross logiert in Fünfstern-Hotels, daran ändert auch seine Agenda 2020 nichts. Das ist eine Scheinreform, und beim IOC bleiben die gleichen Leute an der Macht, die uns schon die völlig überrissenen Spiele der jüngsten Vergangenheit eingebrockt haben. Man weiss, dass sich das IOC an TV- und Sponsoreneinahmen bedient und die Lasten auf die Austragungsorte abschiebt. Die Promotoren behaupten jetzt, dass sie ihre Kandidatur sofort zurückziehen würden, falls das IOC nach dem Zuschlag Änderungen am Konzept vornehmen möchte – doch ich bezweifle, dass sie dies auch tatsächlich tun würden.

Umweltaspekte sind Ihrer Meinung nach also nicht für eine Ablehnung entscheidend?

Sie sind sicherlich nicht unbedeutend. Als Bergler haben die Walliser einen gewissen Wertkonservatismus und Sinn fürs Bewahren in sich. Die Verschandelung der Landschaft  wird da auch eine Rolle spielen. Doch die entscheidenden Punkte bleiben: zu gross, zu teuer, fremdbestimmt.

Sie befassen sich nun seit 18 Jahren mit dem Thema Olympische Spiele. Gibt es Dinge, die Sie nach dieser Zeit immer noch erstaunen?

Mich erstaunt, wie Leute, die sonst in der Privatwirtschaft tätig sind und finanzielle Risiken einschätzen müssen, hier jegliche Art von Vorsicht ausblenden. Sie erliegen immer wieder den gleichen Verführungen …

… weil sie das Risiko nicht selber tragen müssen?

Ja, aber was glauben sie denn? Man muss sich nur minim informieren, um festzustellen, dass die erwarteten Einnahmen bei allen Olympischen Spielen der vergangenen Jahrzehnte nie für die Infrastrukturen und Sicherheit gereicht haben.

RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin

 

Stefan Grass ist Präsident des VCS Graubünden, Leiter des Komitees Olympiakritisches Graubünden und hat zusammen mit der Internationalen Alpenschutzkommission Cipra seit 18 Jahren die Entwicklung der Olympischen Spiele verfolgt und dokumentiert. Er betreut auch die olympiakritische Dokumentation auf www.olympia-nein.ch.

Dies ist das letzte von drei Interviews zum Thema Olympische Winterspiele. Zuvor interviewt wurden der US-Ökonom Andrew Zimbalist (Ausgabe 1/18) und Thierry Largey, Geschäftsführer von Pro Natura Wallis (2/18). Der Kanton Wallis stimmt am 10. Juni über einen Verpflichtungskredit von 100 Millionen Franken für die Olympischen Winterspiele ab. Noch offen ist, ob es es zu einer nationalen Abstimmung über die Bundesmilliarde kommt: Entgegen der Empfehlung des Bundesrats wurde eine entsprechende Motion von Pro Natura Präsidentin Silva Semadeni (SP Graubünden) im Nationalrat angenommen. Der Ständerat muss sich noch mit dem Geschäft befassen.

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Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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