Bürgerversammlung für das Klima Guy Kulitza
04.01.2022 Umweltbildung

Mit Bürgerversammlungen gegen die Klimakrise

Die Schweiz soll einen Klimarat einberufen, der griffige Massnahmen für mehr Klimaschutz vorschlägt. Dies fordern die Grünen. Im zürcherischen Uster hat man mit einem solchen Gremium erste positive Erfahrungen gemacht.

Der Klimaschutz in der Schweiz kommt nur schleppend voran. Darum fordern die Grünen einen Klimarat: Sie möchten, dass die Schweiz eine Bürgerversammlung aus 200 per Los ausgewählten Personen einberuft, die «mehrheitsfähige Lösungen für den Klimaschutz und für mehr Klimagerechtigkeit» vorschlägt. Im Gremium wären alle Bevölkerungsgruppen angemessen vertreten. Die Grüne Fraktion hat im Herbst 2020 – also noch vor dem Volksnein zum CO2-Gesetz – eine entsprechende parlamentarische Initiative eingereicht. Die Schaffung von Klimaräten ist auch eine zentrale Forderung der Klimabewegung. 

Eine solche Bürgerversammlung, so die Überlegung, wäre keinen Parteien verpflichtet und stünde nicht im medialen Scheinwerferlicht. Sie wäre daher eher bereit, die nötigen einschneidenden Massnahmen vorzuschlagen, die zur Bewältigung der Krise nötig sind. Nationalrat Balthasar Glättli, Präsident der Grünen: «Ich war überrascht, welch weitreichende Massnahmen etwa die Klimaräte in Frankreich und in Irland vorschlugen.» Der Klimarat in der Schweiz soll Gesetzes­änderungen vorschlagen, die dann beschleunigt durch Parlament und Bundesrat behandelt werden müssten. Und er soll mit Zweidrittelmehrheit sogar Verfassungsänderungen einreichen können. 

Uster zeigt, wie es geht

Auf lokaler Ebene Erfahrung mit einem Klimarat gemacht hat schon die Stadt Uster. Das Projekt geht zurück auf eine Initiative des Kantons Zürich. Im letzten Herbst versammelten sich in Uster 20 per Los ausgewählte Interessierte, um Massnahmen zum Klimaschutz zu diskutieren. Joelle Warthmann, eine Maturandin, die zurzeit ein Zwischenjahr absolviert, war mit von der Partie. «Wir haben sehr offen und auf Augenhöhe miteinander diskutiert. Politik wird so gut fassbar», sagt sie. Sie war schon vorher am Thema interessiert, bezeichnet sich aber nicht als Klimaaktivistin. 

Nach insgesamt viertägigen Beratungen inklusive Eingangsreferat eines Klimaexperten schlug das «Bürgerpanel Uster für mehr Klimaschutz» 44 Massnahmen vor: Sie reichen von Besuchen von Umweltfachpersonen in Schulen bis zur Empfehlung, dass die Stadt einen Abfallsack für Haushaltplastik einführen solle. Anfang November präsentierten die Mitglieder des Bürgerpanels die Massnahmen der Bevölkerung. Es kamen gut 100 Personen. Joelle Warthmann fand die Erfahrung mit dem Klimarat jedenfalls «sehr positiv» und wünscht sich mehr solcher Initiativen.  

Es liegt nun in Uster an der Politik, zu prüfen, welche Forderungen umgesetzt werden. «Vieles haben wir schon zuvor angepackt», sagt die für das Dossier zuständige Stadträtin Karin Fehr (Grüne). Das Bürgerpanel fasste auch heisse Eisen an und empfahl mit 13 zu 7 Stimmen die flächendeckende Ein­führung von Tempo 30 in den Quartierstrassen. Diese Massnahme stösst im Stadtrat (Exekutive) laut Karin Fehr auf positives Echo. Das Votum des Klimarats «gibt uns Rückenwind und motiviert uns, weiter an diesem Thema dranzubleiben», sagt sie. Im Stadtrat von Uster gibt es seit 2018 eine rot-grüne Mehrheit.

Schweiz tut sich schwer

Auf nationaler Ebene hat es die Forderung nach einem Klimarat jedoch schwer, auch weil er mehr Kompetenzen hätte als der Rat in Uster. Die vorberatende Kommission des Nationalrats lehnte die parlamentarische Initiative der Grünen deutlich mit 19 zu 5 Stimmen ab, nicht einmal die SP-Vertreter stimmten geschlossen dafür. Die Mehrheit der Kommission war der Auffassung, dass ein Klimarat «die Stellung des Parlaments schwächen würde», weil eine Konkurrenzbehörde geschaffen würde. Ausserdem könnten Bürgerinnen und Bürger ja schon mit Volksinitiativen und Referenden direkt in die Politik eingreifen, lautete ein weiteres Argument. Der Nationalrat lehnte das Geschäft Mitte Dezember mit 136 zu 33 Stimmen ab, es ist damit vom Tisch. 

Glättli will aber nicht aufgeben und «die Idee weiterverfolgen, unter Berücksichtigung der Kritik». Und auf lokaler Ebene plant der Kanton Zürich weitere Klimaräte, dieses Jahr einen in Winterthur (der sechstgrössten Stadt der Schweiz) und einen weiteren in Thalwil.

STEFAN BOSS arbeitet als freischaffender Journalist.

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«Ich hatte von Klima keine Ahnung»

Mit der «Bürgerversammlung für das Klima» führte Frankreich von Oktober 2019 bis Juni 2020 ein Experiment in direkter Demokratie durch. Eine repräsentative Auswahl von Bürgerinnen und Bürgern sollte Massnahmen definieren, um die Treibhausgasemissionen Frankreichs sozial gerecht bis 2030 um 40 Prozent zu senken. Mit dabei war auch der heute pensionierte Informatiker Guy Kulitza.

Pro Natura Magazin: Wie entstand die «Bürgerversammlung für das Klima»? 

Guy Kulitza: Die Bürgerversammlung ist Teil der Massnahmen von Emmanuel Macron (Frankreichs Präsident, Anm. der Redaktion) als Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten. Marcron versprach damals eine breite Diskussion auf nationaler Ebene. Ab 2019 generierte ein unabhängiges Institut Telefonnummern nach dem Zufallsprinzip, um eine repräsentative Auswahl an Bürgerinnen und Bürgern nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Wohnregion, Ausbildungsniveau oder beruflicher Stellung zusammenzustellen. 

Es konnte sich also niemand freiwillig melden, etwa als Mitglied einer Partei oder eines Interessenverbands?

Nein, wir wurden alle quasi ausgelost. Als ich angerufen wurde, dachte ich erst, es gehe um Werbung. Danach habe ich das Ganze mit meiner Familie besprochen, bevor ich mich auf das Abenteuer einliess. Ich hatte so viel zu lernen! Ich hatte von Klima keine Ahnung und hatte mich zuvor kaum je mit Ökologie befasst. 

Wie lief die Bürgerversammlung ab?

Mit der Organisation wurde der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat betraut. Ein unabhängiger Lenkungsausschuss hatte die Aufgabe, die Bürgerversammlung zu leiten, ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass ihr Wille respektiert wird. Die 150 Mitglieder wurden wiederum nach dem Zufallsprinzip in fünf Arbeitsgruppen aufgeteilt, die sich mit den Themen Wohnen, Transport, Konsum, Arbeit/Produktion und Ernährung befassten. Unterstützend standen den Gruppen Experten aus den jeweiligen Fachbereichen zur Verfügung. Sie überprüften während der Gespräche Fakten und Zahlen, räumten wissenschaftliche Unklarheiten aus oder beantworteten Fragen zur Gesetzgebung. Geleitet wurden die Arbeitsgruppen von Moderatoren und Moderatorinnen, die dafür sorgten, dass sich alle zu Wort melden konnten.

Wie liefen die acht Sitzungen ab?

Referentinnen und Referenten aller politischen Richtungen und Ideologien haben aus Sicht ihres jeweiligen Fachgebiets eine Analyse und den aktuellen Kenntnisstand zum Klima dargelegt. Ich war in der Arbeitsgruppe Ernährung, obwohl mir Transport lieber gewesen wäre. Dort hätte ich wohl mehr beitragen können. Rückblickend aber finde ich den Ansatz sinnvoll: So hörte ich ohne Vorbehalte und Vorurteile zu, was Vertreter der Agroindustrie, Saatguthersteller, Direktverkäufer und diverse NGOs zu sagen hatten.

Das Ganze war also ein Erfolg? 

Definitiv, auch wenn Präsident Macron sein Wort nicht gehalten hat: Er hatte versprochen, dem Parlament die am weitesten fortgeschrittenen Ergebnisse «ungefiltert» zu übermitteln. Von unseren 149 Vorschlägen sind nun aber gerade mal 15 von der Regierung aufgenommen worden. Das ist zwar enttäuschend, aber ich denke, wir haben trotzdem etwas bewirkt. Das Experiment hat gezeigt, dass mit guten Informationen von verschiedener Seite jede Bürgerin und jeder Bürger Verantwortung übernehmen und ehr­geizige Vorschläge machen kann, die eine klare Mehrheit finden können.

Was haben Sie persönlich gelernt? 

Wenn Politik «von unten» kommt, ist sie friedfertiger. Unsere Gespräche verliefen stets in gegenseitigem Respekt und mit gesundem Menschenverstand – keiner unserer Vorschläge lief dem allgemeinen Interesse zuwider. Alle haben sich dadurch als Mensch weiterentwickelt.

MURIEL RAEMY arbeitet als freischaffende Journalistin.
www.conventioncitoyennepourleclimat.fr

Weiterführende Informationen

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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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