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13.09.2022 Biodiversitätskrise

Biodiversität am Scheideweg - warum der Nationalrat jetzt handeln muss!

Es wurde schon oft gesagt: Der Zustand der Biodiversität in der Schweiz ist auf einem Tiefpunkt angelangt, Tendenz sinkend. Doch es gibt Lösungen, um die Katastrophe noch abzuwenden, insbesondere auf politischer Ebene. In eben diesen Tagen diskutieren Parlamentarierinnen und Parlamentarier über einen Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative, welche mehr Mittel, mehr Fläche und bessere Instrumente für den Naturschutz fordert. In Zeiten, in denen der Naturschutz von allen Seiten attackiert wird und namentlich im Zuge der Energiedebatte frontalen Angriffen ausgesetzt ist, ist diese Diskussion entscheidend: Für das Schicksal der Biodiversität, aber auch für das Schicksal von uns Menschen als Teil der Natur.

Vor kurzem haben Wissenschafterinnen und Wissenschafter ein 150-jähriges Herbarium aus dem Kanton Schaffhausen untersucht. Dabei wurde deutlich, wie schnell der Verlust der Pflanzenvielfalt in unserem Land voranschreitet: 154 der damals gesammelten 1000 Arten sind heute in der Schweiz bereits ausgestorben. Eine Art pro Jahr verschwindet. Das widerspiegelt im Kleinen, was auch im Grossen zu beobachten ist: 

  • 95 % der Trockenwiesen und -weiden und 80% der Moore sind seit 1900 verschwunden.
  • 60 % der Insekten, 40 % der Brutvögel und die grosse Mehrheit der Amphibien und Reptilien sind vom Aussterben bedroht.
  • Alles in allem sind die Hälfte aller natürlichen Lebensräume und ein Drittel aller Pflanzen-, Tier- und Pilzarten vom Aussterben bedroht.

Es besteht also dringender Handlungsbedarf zugunsten der Biodiversität, die auch der Bundesrat als «Voraussetzung für die menschliche Existenz»1 bezeichnete.  

Grosse Chance im Parlament: Die richtigen Flächen am richtigen Ort in ausreichender Menge schützen

Das Schicksal der Biodiversität in der Schweiz entscheidet sich jetzt im Parlament. Die Umweltkommission des Nationalrats (UREK-N) hat kürzlich den Gegenvorschlag des Bundesrates zur Biodiversitätsinitiative im Wesentlichen gutgeheissen. Die Initiative fordert mehr Mittel und Flächen für die Biodiversität sowie geeignete Instrumente zu deren Schutz. 

Auf dem internationalen Parkett vertritt die Schweiz das Ziel, auf 30 % aller Flächen die Biodiversität zu schützen. Der Gegenentwurf der UREK-N begnügt sich aber mit einer Aufzählung von Gebieten, welche gerade mal 17 % der Schweizer Landesfläche ausmachen. Gemäss Berechnungen des Bundesamtes für Umwelt, in denen auch Flächenkategorien einkalkuliert sind, welche den Schutzkriterien nicht genügen, wären wir dabei schon heute bei 13.4 %!  

Solch buchhalterische Übungen bringen uns aber ohnehin nicht weiter. Wir müssen die richtigen Flächen am richtigen Ort und in ausreichender Menge schützen. Mit nur 17 % können wir die für unser Überleben notwendigen Ökosystemleistungen, zu denen etwa auch die Ernährungssicherheit gehört, langfristig nicht aufrechterhalten. Mit diesem Gegenentwurf macht die UREK-N zwar einen kleinen Schritt voran, stoppt den Rückgang der Biodiversität aber nicht. 

Bundeshaus Bern
Das Schicksal der Biodiversität in der Schweiz entscheidet sich jetzt im Parlament.

Ein Gegenvorschlag, zwei mögliche Wege

Der Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative wird nun in der Herbstsession im Nationalrat diskutiert. Das Parlament hat die Wahl zwischen zwei Optionen:

Option 1: Nichts tun, abwarten und einen exorbitanten Preis für den Verlust der Artenvielfalt bezahlen 

Wird der aktuelle Gegenentwurf gutgeheissen, schreitet die Biodiversitätskrise weiter voran. Damit wählt der Nationalrat den Weg der Untätigkeit mit einem exorbitanten Preisschild. Die oft unsichtbaren Leistungen der Biodiversität, die wir künftig ersetzen müssten, sind nicht günstig: 

  • Wälder und Böden erfüllen ihre Schutzfunktion vor Naturkatastrophen und vor den Folgen der Klimaerwärmung kaum noch: Erosion, Hochwasser, Überschwemmungen, Erdrutsche und Dürre werden schwieriger zu bewältigen.
  • Moore, Sümpfe und Wälder werden massiv weniger CO2 binden können, da sie von uns zerstört und ausgebeutet werden.
  • Die Landschaften, auf die wir stolz sind und in denen wir so gerne unsere Freizeit verbringen, verarmen.

Es gibt ein Preisschild für die Untätigkeit: Der Bundesrat schätzt, dass uns der Verlust der Biodiversität bis 2050 jährlich zwischen 14 und 16 Milliarden Franken kosten wird. Also etwa gleich viel, wie die Schweiz im Jahr 2021 zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie aufgewendet hat.23

Option 2: Handeln und die Biodiversitäts- und Klimakrise lindern 

Der zweite, rationalere Weg ist sehr einfach: Handeln. Das Parlament ist in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen und den indirekten Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative deutlich zu verbessern. Mit dieser Variante retten wir nicht nur die Biodiversität, sondern wir lindern auch die Auswirkungen des Klimawandels. Die beiden Krisen müssen gemeinsam gelöst werden. Wenn wir nichts unternehmen, werden die Bedingungen für unsere menschliche Existenz prekär. 

Unsere Volksvertreterinnen und -vertreter haben jetzt die Chance, den Kompass neu auszurichten und einen Weg einzuschlagen, der den nachgewiesenen Bedürfnissen der Biodiversität besser gerecht wird: 

  • Sie können durch gute Raumplanung genügend Fläche für die Erhaltung und Entwicklung der Biodiversität schaffen.
  • Sie können die Schweiz mit geeigneten Instrumenten zum Biodiversitätsschutz ausstatten.
  • Sie müssen der Zerstückelung der Lebensräume mit Massnahmen zur Vernetzung entgegenwirken und damit die ökologische Infrastruktur errichten.

Nationalrätinnen und Nationalräte, die für dieses Thema sensibilisiert sind, können und müssen den Entwurf der Kommission erheblich verbessern. So verhindern sie, dass die Herbarien von 2022 in 100 Jahren zu stummen Zeugen einer für immer verlorenen Biodiversität der Vergangenheit werden. 

Sarah Pearson Perret, Biologin, Secrétaire romande 

 

Bilanz der Diskussionen im Parlament über die Biodiversitätsinitiative
Nach dreitägigen Beratungen empfiehlt der Nationalrat das NEIN zur Biodiversitätsinitiative. Den Gegenvorschlag hat er jedoch verbessert. Der Nationalrat verankert die ökologische Infrastruktur im Naturschutzgesetz und erweitert die zur Verfügung stehenden Instrumente mit einem weiteren Instrument: «Biodiversitätsstandorte». Dieses zielt darauf ab, in einem Gebiet den Schutz der Biodiversität mit anderen Nutzungsformen zu kombinieren und kann je nach Umsetzung zu spannenden Kompromissen führen. Pro Natura begrüsst die Ablehnung eines Flächenziels. Diese rein buchhalterische Übung wurde von der Mehrheit der zuständigen Kommission vorgeschlagen. Der Ständerat, der sich demnächst über die Initiative und den Gegenvorschlag beraten wird, muss nun sicherstellen, dass die Voraussetzungen, insbesondere finanzieller Art, gegeben sind. Die Kantone müssen bei der Umsetzung der vorgeschlagenen Massnahmen unterstützt werden.

 

 

Botschaft des Bundesrates zur Biodiversitätsinitiative und zum indirekten Gegenvorschlag, März 2022 
Botschaft des Bundesrates zur Biodiversitätsinitiative und zum indirekten Gegenvorschlag, März 2022 
https://www.efd.admin.ch/efd/de/home/finanzpolitik/die-bundesfinanzen.h…

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