Eiffelturm
25.05.2022 Energie

Das Ende des Eiffelturms

Haben Sie es schon gehört? Im Kampf gegen den akuten Mangel an Industriestahl für die krisengeschüttelte Autoindustrie greifen die französischen Behörden zu drastischen Massnahmen. Die obere Hälfte des Eiffelturms wird abgebaut und eingeschmolzen.

Nach einer emotionalen, streckenweise turbulenten Debatte stimmte die franzö­sische Nationalversammlung dem Vorhaben knapp zu. «Alle müssen jetzt einen Beitrag leisten», mahnte der Präsident der Republik. Immerhin werde nicht der ganze Turm abgebrochen. Um den Eingriff zu mildern, werde zudem während der Nachtstunden mittels einer raffinierten Lichtinstallation die Turmspitze visuell wiederhergestellt.

Sie ahnen es: Das stand so nicht in der Zeitung. Doch ersetzen Sie einmal «Eiffelturm» durch «Rheinfall» und «Industriestahl» durch «Strom». Verlegen Sie jetzt noch den Ort der Handlung von Paris nach Schaffhausen – schon sind Sie in der Realität angekommen. Der grösste Wasserfall der Schweiz – wie der Eiffelturm in Frankreich eine der grössten Attraktionen unseres Landes – soll das gleiche Schicksal erleiden wie fast alle einst spektakulären Wasserlandschaften der Schweiz. Rheinwasser soll vor dem Rheinfall abgezweigt und für den Stromhunger unserer Gesellschaft durch Röhren und Turbinen statt über die Steinstufen des Wasserfalls rauschen. Natürlich ist von «gering­fügigen» Eingriffen die Rede. Wers glaubt! Ist der Türspalt erst offen, werden die Begehrlichkeiten wachsen. Dabei ist es erst acht Jahre her, dass die Schaffhauser Stimmberechtigten eine Gesetzesänderung klar ablehnten, die eine Wasserkraftnutzung am Rheinfall ermöglicht hätte.

Der politische Anstand würde gebieten, die Sache jetzt zumindest für eine Generation ruhen zu lassen. Doch während die Verschrottung eines Nationaldenkmals unmöglich erscheint, tönt es bei der Mutter aller Wasserfälle nun von links bis rechts: «Für die Energiewende müssen jetzt alle einen Beitrag leisten.» Wirklich alle? Ist homo sapiens mitgemeint? Oder müssen nur jene vielleicht 60 000 Arten von Lebewesen in unserem Land Opfer bringen, die selber gar keinen Strom verbrauchen?

Wir gescheiten Zweibeiner könnten viel tun, um die Verschandelung einmaliger Landschaften zu vermeiden. Hat man zum Beispiel schon gehört, dass stromfressende Elektroheizungen flächendeckend schleunigst ersetzt werden müssen? Ist es so, dass heute bei jedem Neu- und Umbau zwingend Sonnenenergie für die Bereitstellung von Warmwasser eingesetzt wird? Natürlich nicht. Die ­dafür nötigen Investitionen fliessen stattdessen in neue Kraftwerke. Wie leicht ­könnten wir im Interesse der ­Biodiversität den Strom einsparen, den ein Rheinfallkraftwerk produzieren würde.

Doch viele schöne politische Bekenntnisse zum Schutz der Biodiversität oder zum Stromsparen gehen über Bord, sobald es konkret wird (und Bau­aufträge winken). «Strom ist das halbe Leben», ­lautete einst ein Werbespruch der Elektrizitätswirtschaft. Anders die ­Biodiversität: Sie ist das ganze Leben. Auch unseres.

RICO KESSLER, Redaktor

Rheinfall Angela Peter

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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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