Berner Hochalpen und Aletsch-Bietschhorn-Gebiet Raphael Weber
20.03.2023 Klimakrise

Die Schweiz im Klimawandel

Der Klimawandel ist kein Zukunftsszenario, er ist schon heute sicht- und spürbar. Gegenmassnahmen sind dringend, und deshalb empfiehlt Pro Natura ein Ja zum Klimaschutzgesetz.

7,4  Grad. So warm war es durchschnittlich in der Schweiz im Jahr 2022. Das ist Rekord – und zwar deutlich: Um rund 0,5 Grad wurde das bisher heisseste gemessene Jahr (2018) überboten. Und: Noch nie wurde in der Schweiz eine so dramatische ­Gletscherschmelze gemessen wie im Sommer 2022. Mehr als sechs Prozent ihres Volumens (total 3 km3) haben die Schweizer Gletscher verloren, fast dreimal so viel wie in einem Durchschnittsjahr der letzten Dekade.

Und kaum hat das neue Jahr begonnen, purzeln die Rekorde von Neuem. Zum ersten Mal seit Messbeginn sind auf der Alpen­nordseite im Januar über 20 Grad gemessen worden – Bilder von grün-matschigen ­Schweizer Ski- und Langlaufgebieten gingen um die Welt. Die Rekordwerte reihen sich ein in Langzeitentwicklungen, die ganz klar zeigen: Die Klimaerwärmung nimmt Tempo auf, die Krise verschärft sich.

Umso erstaunlicher ist es, dass rechtskonser­vative Politikerinnen und Politiker weiterhin die Augen ­verschliessen und das neue Klimaschutzgesetz (Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative) per Referendum bekämpfen. Mitten im rekordwarmen Januar gab die SVP bekannt, dass sie die nötigen Unterschriften beisammen hat. Das Klimaschutzgesetz strebt die notwendige Dekarbonisierung an und gibt den Weg zum ­«Netto-Null-Ziel» bis im Jahr 2050 vor. Zur Abstimmung kommt es am 18. Juni 2023.

Die Schweiz erwärmt sich überdurchschnittlich stark 
Global waren die letzten zehn Jahre 1,1 °C (Landfläche 1,6° C) wärmer als der vorindustrielle Durchschnitt (1871–1900). Das globale Temperaturmittel ist heute so hoch wie noch nie in den vergangenen 2000 Jahren, sehr wahrscheinlich sogar seit 125 000 Jahren. Die Schweiz hat sich – wie alle Landmassen in den mittleren nördlichen Breiten – überdurchschnittlich stark erwärmt: Hier waren die letzte zehn Jahre ­sogar 2,5 °C wärmer als der vorindustrielle Durchschnitt. Seit den 1960er-Jahren war jedes Jahrzehnt bei uns wärmer als das vorherige. Und dabei dürfte es nicht bleiben, wie die Klimaszenarien 2018 des Bundes zeigen: Bei ungebremst steigenden Treibhausgasemissionen kann die Jahresmitteltemperatur bis 2060 um weitere 4,8 °C und bis Ende Jahrhundert um bis zu 6,9 °C steigen (gegenüber dem vor­industriellen Durchschnitt). 

Abweichungen der Jahresmitteltemperatur vom vorindustriellen Durchschnitt:

Abweichungen Jahrestemperaturen Grafik Robin Hübscher
© Robin Hübscher

Die Nordschweiz wird mediterran

Künstliche Sandstrände, Palmen auf Balkonen, nächtlicher Betrieb auf Plätzen und Strassen: Was beim Lebensstil zu beobachten ist, zeigt sich auch beim Blick aufs Thermometer: Die Nordschweiz wird zunehmend mediterran. Basel etwa weist heute jene Jahresmittel- und Sommertemperaturen aus, die in Locarno Mitte der 1970er-Jahre registriert wurden. Neben den angenehmen Effekten bringt der Klimawandel aber auch negative Folgen für die Nordschweiz: häufigere und längere Hitzewellen und Trockenperioden sowie vermehrt auftretende Starkregen und Hochwasser.

Palmenblatt Suzana Mijailovic

Mehr Hitzetage 

Noch erheblich stärker als die Durchschnittstemperaturen sind in der Schweiz die Höchsttemperaturen gestiegen. Hitzewellen ­sowie heisse Tage und Nächte wurden in den letzten Jahrzehnten deutlich häufiger, wie das Beispiel Lugano zeigt. Während in den 1960ern und 1970ern kaum je Tage mit Maximaltemperaturen von mindestens 30 Grad gemessen wurden, sind es inzwischen schon um die 20 Hitzetage pro Jahr. Betroffen sind aber auch die Gebiete nördlich der Alpen, insbesondere die Städte mit ihren vielen ver­siegelten Flächen. Berechnungen zeigen, dass ohne vehementen Klimaschutz die Zahl der Hitzetage bis 2060 stark zunehmen wird: In Genf etwa von 15 (mittlerer Wert 1981–2010) auf 39, in Zürich von 5 auf 21 und in Luzern von 6 auf 22.

Rasante Gletscherschmelze

 

Gletschervolumen (km²) 1931
Gletschervolumen (km²) 2022
Gletschervolumen (km²) 2100

Die Schweizer Gletscher erreichten ihre grösste Ausdehnung während der kleinen Eiszeit um das Jahr 1850. Die gesamte Gletscherfläche betrug ­damals 1735 km2 – exakt die Grösse des Kantons Zürich. ­Seither haben die Gletscher massiv an Fläche und Volumen verloren: 2016 war nur noch die Hälfte des Volumens übrig. Und von 2016 bis heute – also in nur sechs Jahren – haben die Gletscher zusätzlich rund 12 Prozent Volumen eingebüsst. Gemäss einer Studie von ETH und WSL wird bis im Jahr 2050 die Hälfte der verbliebenen Gletschermasse verloren ­gehen. Bis zum Ende des Jahrhunderts dürften gar 90 Prozent der heutigen Eismasse verschwinden – falls sich das Klima weiter wie bisher erwärmt. Mit starkem ­Klimaschutz würden «nur» zwei Drittel der Eismasse verloren gehen.

Der «Alpenleim» löst sich auf

Unter Permafrost versteht man Boden, Schutthalden oder Felswände, die dauerhaft Temperaturen ­unter 0 °C aufweisen. In der Schweiz findet man auf etwa 5 Prozent der Landesfläche Permafrost, vor allem in den hohen Lagen im Wallis und in Südbünden. Er kann bis in Tiefen von 80 Meter vordringen und stabilisiert die Hänge: Je kälter er ist, desto höher ist die Hangstabilität. Mit einsetzender Erwärmung wird das ­Eis-­Fels-Gemisch «weicher», es beginnt sich zu deformieren und bietet dem Wasser Eintrittsmöglichkeiten. Messungen zeigen, dass die Permafrosttemperaturen in den letzten 20 Jahren an allen 15 Beobachtungsstandorten der Schweiz angestiegen sind. Am Stockhorn bei Zermatt etwa oder in Murtèl-Corvatsch (GR) nahmen sie in 20 m Tiefe um rund 0,5 °C zu. Das scheint wenig, doch eine «kleine» Erwärmung kann schwerwiegende Folgen haben: Hänge werden nicht erst beim Überschreiten der 0 °C-Marke deutlich instabiler, sondern bereits bei Werten um –2 °C.

 

Dünnere Schneedecken

Die steigenden Temperaturen und der Rückgang der Niederschläge im Winter wirken sich auf die Schneebedeckung der Alpen aus. Eine Langzeitstudie zeigt, dass in den Alpen vor allem unterhalb von 2000 Metern heute deutlich weniger Schnee liegt als noch vor 50 Jahren, im Frühling in allen Höhenlagen. Die ­mittlere Schneehöhe von November bis Mai ist seit 1971 pro Jahrzehnt um durchschnittlich 8,4 Prozent zurückgegangen – besonders stark in tiefen Lagen. Gemäss MeteoSchweiz könnte die Schneedecke in Höhenlagen über 1500 m. ü. M bis im Jahr 2060 um 30–50 Prozent abnehmen (gegenüber 2020), unterhalb von 1000 m. ü. M. gar um 80 Prozent. Bei Ein­haltung des Pariser Abkommens würden die Aus­wirkungen bis 2060 nur etwa halb so stark ausfallen.

Greina Hochebene Raphael Weber

Kürzere Schneesaison

In den letzten 50 Jahren nahm die durchschnittliche Dauer der Schneebedeckung alpenweit im Schnitt um 5,6 Prozent pro Dekade ab. Besonders stark betroffen sind die Lagen unterhalb von 2000 m. ü. M – dort verkürzte sich die Schneesaison seit 1971 um rund ­einen Monat. Aber auch in den höheren Lagen, wo im Hochwinter noch keine Schneeverluste festzustellen sind, ist die Schneesaison heute kürzer, vor allem aufgrund der starken Frühlingsschmelze. In den Schweizer Alpen beginnt die Schneesaison heute im Durchschnitt 12 Tage später und endet rund 25 Tage früher als 1971. Und sie dürfte bis im Jahr 2100 nochmals um 2–5 Wochen später beginnen und um 2–11 Wochen früher enden als heute (je nach Höhenlage) – wenn die Treibhausgasemissionen weitergehen wie bisher.

Von Nicolas Gattlen

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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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