Sonja Wipf bei der Arbeit Raphael Weber
06.10.2023 Biodiversitätskrise

«Ich war vor einigen Jahren weniger alarmistisch »

Nirgendwo zeigen sich die Folgen des Klimawandels so deutlich wie im Alpenraum. Mehrere Personen schildern uns in dieser Ausgabe, welche Auswirkungen dies auf unsere Biodiversität hat und wie wir Gegensteuer geben können — so auch die Botanikerin Sonja Wipf.

Ein grandioser Sommertag ist in der Val Mingèr angebrochen. Letzte Nebelschwaden umhüllen die Gipfel des Unterengadins, während wir entlang von bizarren Felsformationen, mächtigen Bergföhren und riesigen Geröllhalden stetig bergwärts schreiten. Nach knapp einer Stunde erreichen wir die Alp Mingèr, das heutige Ziel von Sonja Wipf. Die Botanikerin erfasst hier, wie an weiteren Orten im Schweizerischen Nationalpark (SNP), systematisch die Flora und setzt damit eine über hundertjährige Forschungs­arbeit fort. Der SNP gehört weltweit zu den Institutionen mit dem grössten Fachwissen und Datenreichtum zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die alpine Flora und Fauna. 

Parallel dazu konnte Sonja Wipf als Leiterin einer viel beachteten europäischen Studie nachweisen, dass der Klima­wandel starke Auswirkungen auf die alpine Biodiversität hat. Dazu haben Forscherinnen und Forscher auf über 300 euro­päischen Berggipfeln die Flora erfasst und mit früheren Daten aus rund 100 Jahren abgeglichen. Im SNP leitet die 50-Jährige den Bereich Forschung und Monitoring und ist Mitglied der ­Geschäftsleitung. 

Sonja Wipf Raphael Weber
Sonja Wipf erfasst mit geübtem Auge alle vorhandenen Pflanzen.

Mittlerweile hat Sonja Wipf oberhalb der Alp Mingèr innerhalb einer sogenannten Naturbeobachtungsfläche einen ­Quadratmeter abgesteckt und erfasst dort mit geübtem Auge alle vorhandenen Pflanzen; deren 40 sind es schliesslich. Dies sei ein recht hoher Wert, in der vergangenen Woche habe sie bei ­Margunet sogar 57 unterschiedliche Pflanzen auf einem Quadratmeter gezählt, dies sei ein Spitzenwert.

Pro Natura Magazin: Wie wirkt sich der Klimawandel auf die Alpenflora aus?

Sonja Wipf: Er führt zu einer grossen Artenverschiebung. Auf den Berggipfeln finden wir heute rund 45 Prozent mehr Arten vor als noch vor ein paar Jahrzehnten. Als Faustregel gilt: Je stärker die Erwärmung, desto grösser die Artenzunahme. Immer mehr subalpine Arten besiedeln höhere Lagen. 

Und werden dadurch die alpinen Spezialisten verdrängt?
Das wird sich zeigen. Alpine Arten sind sich keine Konkurrenz gewohnt; bisher haben sie Standorte besiedelt, die ihnen niemand streitig gemacht hat, und deshalb haben sie eine konservative Überlebensstrategie. Viele sind langlebig, blühen nicht jährlich und produzieren nur wenige und kleine Samen. Meistens haben sie eine kleine Statur und sind generell wenig flexibel. Die neuen Arten aber sind sich Konkurrenz gewohnt, mussten sich auf subalpinen Wiesen behaupten und sind deshalb viel anpassungsfähiger. Natürlich behalten alpine Arten ihren Standortvorteil und Allerweltsarten werden nun nicht gerade die harschesten Standorte wie alpine Geröllhalden besiedeln. Trotzdem, einige alpine Spezialisten bekunden grosse Mühe mit den neuen Bedingungen, und ihre Bestände sind rückläufig. 

Sonja Wipf

Ich war vor einigen Jahren weniger alarmistisch, doch ich beobachte nun, dass die Besiedelung durch neue Arten in den letzten Jahren immer schneller vor sich geht.

Ausharren und sich behaupten ist eine Strategie, wandern andere bedrängte Arten ebenso in die Höhe?
Ja sicherlich. Doch viele Arten sind jetzt schon auf den Gipfeln und können deshalb nicht noch weiter nach oben wandern. Sie suchen nun passende Nischen, denn die neuen Arten besiedeln zuerst die warmen Stellen an den Süd- und Ostflanken der Berge. Dort scheint die Sonne am längsten oder sie sind vom Wind geschützt. 

Die zunehmende Konkurrenz ist offensichtlich ein Stress­faktor, was kommt hinzu?
Eine zunehmende Trockenheit; etwas, das ich auf dieser Höhe früher kaum erlebt habe. Die Niederschläge werden seltener und kräftiger. Im Hochsommer kann es hier oben staubtrocken sein, und das ist nicht nur für die Flora eine grosse Belastung. Die Böden werden «hydrophob», können also kaum Wasser aufnehmen. Wenn dann ein heftiges Gewitter kommt, entfacht es eine mächtige Wirkung, es kommt zu Murgängen, erst recht in Landschaften wie hier, in diesem bröckeligen Dolomitgestein. Im Nationalpark, der ja «echt wild» ist, ist dies durchaus spannend. Denn je wilder und dynamischer die Landschaft, desto vielfältiger ist auch die Biodiversität!

Für die menschliche Zivilisation wird die Natur aber auch bedrohlicher. 
Ja sicherlich, die Extremereignisse nehmen zu, die Stabilität nimmt ab, dies führt zu mehr Murgängen und Bergstürzen. Doch auch der Wasserhaushalt verändert sich stark. Die Gletscher­reserven schwinden rasant, die Schneefelder sind stark rückläufig, Quellen versiegen. Unter anderem wird dies die Bewirtschaftung vieler Alpen erschweren. 

Entstehen durch den Gletscherschwund und die zunehmenden Bergstürze hingegen auch neue Lebensräume, die alpine Pflanzen wiederum besiedeln können?
Durchaus, doch diese können die Bedrängnis der alpinen Pflanzen nur bedingt abfedern. Das zeigt sich nur schon an der ­Pyramidenförmigkeit unserer Berge. Der Druck von unten auf die kleinen Gipfelregionen bleibt gross. 

Verschiebt sich auch die Baumgrenze nach oben?
Einzelne Bäume wandern nach oben, doch eine flächendeckende Bewegung findet hier im Nationalpark noch nicht statt. Dies ist vor allem auf die starke Beweidung durch unsere grossen Huftierpopulationen zurückzuführen. Es wird nun spannend, ob sich dies durch die Präsenz von grossen Beutegreifern ändern wird. 

Parc national suisse dans les Grisons Jan Gürke
Schweizer Nationalpark im Graubünden.

Wie sind diese im Nationalpark vertreten?
Mehrere Jahre war eine einzelne Wölfin ansässig. Seit dem letzten Winter ist nun ein Paar im Park unterwegs, doch wir haben noch keinen Nachweis eines Rudels. Wir wollen die Situation nutzen, um die Rolle von Beutegreifern im Ökosystem zu erfassen. Dazu sammeln wir schon seit Jahren wissenschaftliche Basis­daten.

Und wie?
Wir haben Hirsche und Gämsen besendert, sie sind die Hauptbeute von Wölfen. Wir wollen erkennen, ob und wie sich ihre Aktivitätsmuster ändern. Bereits jetzt stellen wir bei den regelmässigen Zählungen fest, dass die Hirsche in kleineren Gruppen unterwegs sind, vermutlich, um agiler gegenüber allfälligen Angriffen zu sein. Bei Füchsen führen wir auch Besenderungen, Nahrungsanalysen und Fotofallenmonitoring durch. Spannend wird es auch bei den Kleinsäugern: Vermehren sie sich, weil ihre Hauptfeinde, die Füchse, durch den Wolf dezimiert werden oder auch weil sich die Füchse vermehrt durch Aas ernähren, das die Wölfe hinterlassen? Auch gewissen Alpen­pflanzen wird eine grössere Dynamik sicherlich entgegenkommen. 

Eine möglichst grosse natürliche Dynamik macht die Flora und Fauna der Alpen also widerstandsfähiger gegenüber den Folgen des Klimawandels?
Ja, in alpinen Lebensräumen, die nicht durch den Menschen geprägt sind, können sich die natürlichen Prozesse ungehindert entfalten. Natürliche Abläufe und Störungen sorgen auch hier auf der Alp Mingèr dafür, dass ein unglaublich vielfältiges ­Mosaik besteht.

Ohne Steinschläge, Murgänge, Stürme, Hitze, Trockenheit, Kälte und weitere Faktoren würden wohl wenige einzelne Spezies Überhand nehmen, und ich würde auf einem Quadratmeter kaum 40 verschiedene Pflanzenarten finden. Die gros­se Diversität von Standorten und Arten schafft auch eine gewisse Resilienz gegen die Folgen des Klimawandels. 

Sonja Wipf Raphael Weber

Nach erledigter Arbeit schreiten wir wieder das Tal hinunter. Dabei durchqueren wir ein Bachbett, in dem neulich riesige Geröllmassen verschoben und ganze Baumstämme das Tal hinuntergespült worden sind, jetzt aber liegt es trocken. Später, während wir aufs Postauto warten, inspiziert Sonja Wipf aufmerksam die Strassenränder; sie hält Ausschau nach Neophyten. Die Ofenpassstrasse, die Hauptverkehrsader, die durch den Nationalpark führt, war vor zwölf Jahren noch praktisch frei von Neophyten. mittlerweile säumen sie die Strassenborde. «Zum Glück sind noch keine invasiven Arten dabei», sagt die Botanikerin. 

Die Neophyten werden durch Fahrzeuge und menschliche Aktivitäten in den Park eingeschleppt, und der Klimawandel fördert ihre Ausbreitung in die Höhe. Diese Entwicklung stellt auch das Nationalparkteam vor ungelöste Fragen, denn hier wird die Natur sich selbst überlassen und menschliche Eingriffe sind nicht erlaubt. «Müssen wir uns nun selber büssen, falls wir invasive Pflanzen ausreissen?», fragt Sonja Wipf rhetorisch. Die Antwort bleibt vorerst dahingestellt, doch es ist klar, dass die Biodiversität im Alpenraum vor grossen Veränderungen steht. 

RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin.

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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