«Emotionen vermitteln uns Orientierung»
Pro Natura Magazin: Die Tiefenpsychologie sagt, dass wir alle tief in uns Wolfsbilder tragen, die uns gar nicht bewusst sind. Wie kommt es dazu?
Brigitte Egger: So wie ein Embryo die verschiedenen Stufen der stammesgeschichtlichen Entwicklung zum Menschen widerspiegelt, ist es auch mit dem seelischen Bereich. Alle Erfahrungen, die für die Menschen wichtig waren, haben so etwas wie einen Grundstock an Vorstellungsmöglichkeiten in uns hinterlassen. Wir nennen sie Archetypen. Jeder Mensch trägt diesen Grundstock in sich.
Wodurch wird das innere Wolfsbild beim Menschen geprägt?
Über einen langen Zeitraum der Geschichte war der Mensch den Raubtieren ausgeliefert. Das hat tiefe Erfahrungen hinterlassen. Das Ausgeliefertsein an etwas Grösseres, Stärkeres ist eine Kernerfahrung des Lebens und weiter aktuell. Das Raubtier bleibt ein sprechendes Bild dafür. In unseren Breitengraden war der Wolf der grösste Konkurrent des Menschen. Er ist damit Bedrohung und Vorbild zugleich geworden. In anderen Weltgegenden nimmt der Löwe oder der Tiger diese Stellung ein.
Das tief verwurzelte Bedrohungsgefühl ist leicht nachvollziehbar. Wie kann ein so bedrohliches Tier zugleich Vorbild sein?
Was mich bedroht, weil es grösser, stärker oder raffinierter ist als ich, wirft gleichzeitig die Frage auf: Wie kann auch ich so gross und stark sein? Wir sind dem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert, wir können es auch meistern. Deshalb liegen Angst und Bewunderung nah beisammen, wenn es um den Wolf geht. Im Deutschen kennen wir dafür den schönen Begriff der Ehrfurcht. In unserer Zeit fallen leider alle Gegensätze auseinander: Wir vergessen, dass das Vereinigen der Gegensätze der Motor des Lebens und der Seele ist, genau wie zur Zeugung von Nachwuchs.
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Thomas T./ Wikipedia
- Höhlenmalerei aus der Chauvet-Höhle um 31.000 v. Chr. (Nachbildung)
Nicht einfach. Die Zeichen stehen – nicht nur beim Wolf – auf Polarisierung.
Ja, wir haben weltweit in ganz vielen Bereichen einen Unwillen, uns in ein Gegenüber einzufühlen, uns dadurch zu beschränken und zu verändern. Sei das Gegenüber die Natur, der Wolfsgegner, der Fremde oder die Seele. Wichtig wäre gerade auch im Naturschutz, dass möglichst viele Menschen schon in sich selber diese Verbindung zwischen Gegensätzen pflegen. Wovor habe ich Angst? Wo steht mein politischer Gegner? Und dann eben: Wie kann ich eine Brücke schlagen, um Lösungen zu erarbeiten?
Ab wann wird unser Entgegenkommen als Schwäche wahrgenommen?
Wichtig ist zuerst einmal, sich selber nicht als schwach zu sehen, weil man das Gegenüber zu verstehen versucht!
Können wir moderne Menschen überhaupt einen differenzierten Umgang mit den inneren Wolfsbildern entwickeln?
Ganz klar! Einerseits können wir, in uns und im Gegenüber, alles was zum Wolf assoziiert wird, ausformulieren, samt der emotionalen Tönung: unbändige Gier, Ohnmacht, Schlauheit, Weisheit und vieles mehr. Und uns fragen, ob wir das illegitim auf den Wolf projizieren. Anderseits können wir von den kulturellen Wolfsbildern lernen. Was stellt der Wolf im Rotkäppchen dar? Warum ist das schreckliche Werwolfmotiv so faszinierend?
Was heisst das konkret für den Umgang mit dem Wolf?
Wir müssen auf die Emotionen derjenigen eingehen, die zum Wolf eine andere Einstellung haben als die Naturschützenden. Und: Wenn Pro Natura den Wolf als wichtigen Teil einer gesunden Natur sieht, diese Natur aber schon in so vieler Hinsicht beschädigt ist, dann müssen wir auch Massnahmen finden und finanzieren, um den Wolf zu integrieren.
Wir müssen schon sehr auf die Zähne beissen, wenn wir einen Walliser Regierungsrat sehen, der sich mit Wolfsabschüssen und grossen Sprüchen profiliert.
Klar, das ist grässlich. Darum ist es so wichtig, zu unseren Gefühlen zu stehen. Wir dürfen sagen, wie uns der wahllose Abschuss von Wölfen schmerzt. Emotionen zu zeigen, verschafft uns Energie. Schliesslich steckt im Wort Emotion das lateinische Wort für Bewegung. Emotionen geben Orientierung und drängen uns zu Veränderungen. Wir müssen sie aber wahrnehmen und benennen können, denn verdrängte Emotionen explodieren und verunmöglichen jeglichen Dialog.
«Jetzt sind Sie emotional!» ist ein oft gehörter Vorwurf in der Wolfsdebatte, auf beiden Seiten.
Nicht beim Vorwurf belassen, sondern nachfragen, was damit genau gemeint ist! Dies alles zeigt, wie sehr wir die Brücke zwischen der seelischen Wirklichkeit und der naturwissenschaftlichen Sicht wieder herstellen müssen, eine Einstellung, an der wir alle arbeiten sollten. Für Pro Natura ist es wichtig, die eigenen Leute entsprechend zu befähigen.
RICO KESSLER, Redaktor Pro Natura Magazin
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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