Le Canada VD Matthias Sorg
11.09.2025 Praktischer Naturschutz

«Wir wenden die falsche Methode an»

Pierre-Alain Oggier, Biologe und ehemaliger Umweltverantwortlicher bei der Dienststelle für Nationalstrassenbau im Wallis, fordert, dass die Schweiz in Sachen Naturschutz grösser denkt und ehrgeiziger vorgeht.

Pro Natura Magazin: Herr Oggier, Ihrer Ansicht nach ist der Naturschutz in unserem Land nicht mutig genug. Woran machen Sie das fest? 

Man orientiert sich an zu niedrigen Ausgangswerten und begnügt sich damit, diese zu erhalten. Unterhalb von 2000 Metern ü. M. haben wir die Natur durch immer produktivere Systeme ersetzt und die Biodiversität nach und nach zum Verschwinden gebracht. Der Naturschutz scheint auszublenden, dass die wenigen übrig gebliebenen Lebensräume, die wir als «natürlich» betrachten – Moore, Magerwiesen, Wälder, Auen, Seen –, in Wirklichkeit entweder landwirtschaftliche Mähwiesen sind oder Gebiete, die durch Planierungen, Drainagen, Anpflanzungen und andere Regulierungsmassnahmen verarmt sind. Selbst Biotope von nationaler Bedeutung beherbergen heute nur noch einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Biodiversität und weisen reduzierte, zurückgehende Bestände auf. 

Machen wir in den Biotopen von nationaler Bedeutung also nicht genug?

Wir wenden die falsche Methode an. In intensiv genutzten Gebieten haben wir keine andere Wahl mehr, als standardisierte Kleinstbiotope anzulegen, die wir alle auf die gleiche Weise pflegen, um eine dekorative Minimalbiodiversität zu fördern. Diese Strategie funktioniert für die meisten Arten nicht, umso weniger als wir deren spezifische Bedürfnisse nicht kennen. Es ist unsinnig, diese Art des «Gärtnerns» in Biotopen von nationaler Bedeutung anzuwenden. So nehmen wir der Natur die Freiheit, die sie braucht, um ihre ganze Vielfalt zu entfalten. 

Sie kritisieren zum Beispiel den Umgang mit den Auengebieten von nationaler Bedeutung. 

Tatsächlich wird die Wiederherstellung der natürlichen Bedingungen in den Auengebieten durch verschiedene Gesetze behindert. Da die Moore per Verfassung geschützt sind, werden Dämme gebaut, um sie vor den Flüssen zu «schützen». Das geht auf Kosten der natürlichen Wechselwirkungen. In einigen Biotopen von nationaler Bedeutung dient die Forderung, ein Objekt «ungeschmälert zu erhalten», nur als Ruhekissen, um die bereits eingeschränkte Natur sich «frei» entwickeln zu lassen. In stark beeinträchtigten Ökosystemen können die natürlichen Kreisläufe nicht richtig ablaufen. Solche Ansätze können zu Absurditäten führen wie dem Anlegen von Weihern auf Dämmen. 

Pierre-Alain Oggier z.H. Pierre-Alain Oggier
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Es ist normal, dass ausserhalb der Schutzgebiete für Sicherheit gesorgt wird, aber innerhalb der Schutzgebiete muss die natürliche Dynamik wieder spielen können.

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Pierre-Alain Oggier, Biologe

Gibt es eine Alternative? 

Eine Rückkehr der früheren Biodiversität setzt voraus, dass das zufallsgesteuerte Chaos der natürlichen Dynamik zumindest teilweise wiederhergestellt oder nachgeahmt wird. Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Brände und Lawinen halten sich weder an unsere Umweltvorschriften noch an unsere emotionalen oder ästhetischen Kriterien. Sie schaffen eine Vielfalt, auf die sich die heimische Flora und Fauna rasch einstellt. Es ist normal, dass ausserhalb der Schutzgebiete für Sicherheit gesorgt wird, aber innerhalb der Schutzgebiete muss die natürliche Dynamik wieder spielen können. 

Falls dies nicht möglich ist, müssen moderne Ersatzmassnahmen an die Stelle der natürlichen Umweltfaktoren treten, zumindest in unseren Biotopen von nationaler Bedeutung. Beispiele dafür sind der kontrollierte Kiesabbau in bestimmten Auengebieten oder eine extensive jährliche Beweidung. Die Realisierung solcher Massnahmen sollte erleichtert werden. 

Muss man zur Umsetzung dieser Strategie auf grösseren Flächen operieren? 

Wir müssen die bestehenden Schutzgebiete optimieren: Wenn ihre Perimeter für die angestrebten Ziele nicht tauglich sind, müssen wir sie anpassen und fragmentierte Objekte zusammenlegen, wenn nötig durch Landumlegungen. Innerhalb des heute geltenden Rechtsrahmens sind dafür spezielle Pilotversuche erforderlich. Die Ergebnisse werden den Ehrgeiz anstacheln und die Anpassung der Gesetze vorantreiben. Um die innere Dynamik der Gebiete wiederherzustellen, muss die teure und unflexible Detailplanung durch Leitziele – etwa zur Art und zum Anteil der gewünschten Naturräume – ersetzt werden. Ausserdem sollte die Umsetzung in Etappen erfolgen, damit man sie an die Reaktionen von Flora und Fauna anpassen kann. 

Tanja Araman, Redaktorin Pro Natura Magazin

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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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