Luchsmutter mit Baby Michael Roeder
06.10.2023 Wolf, Luchs, Bär

Die Schweizer Luchse brauchen «frisches Blut»

Dem Luchs in der Schweiz geht es gut, so könnte man meinen. Doch leider sieht seine Zukunft eher düster aus, denn die Tiere leiden immer häufiger an Inzucht.

Im Rahmen der Wiederansiedlung in der Schweiz wurden in den 1970er-Jahren
16 Luchse aus den Karpaten in den Alpen und zehn im Jura freigelassen. Heute ­leben bei uns rund 250 Luchse, verteilt auf zwei Populationen im Jura und in den Alpen. Langsam breitet sich die scheue Waldkatze ins Mittelland aus. Aber: Die genetische Basis für die Entwicklung des Bestands war von Anfang an dürftig. Sie widerspiegelte nicht die vollständige Genetik des Karpatenluchses, sondern nur einen zufälligen Ausschnitt, und nicht alle der wenigen ursprünglich ausgesetzten Tiere pflanzten sich überhaupt fort. Eine Durchmischung der Alpen- mit der Jurapopulation wurde bislang auch nicht festgestellt (ausser in der Ostschweiz, ­wohin in den Nullerjahren im Rahmen des LUNO-Projekts Luchse aus dem Jura und den Alpen umgesiedelt wurden).  

Genetische Vielfalt geht verloren

Über die Jahre führte diese Situation dazu, dass sich immer näher verwandte Tiere verpaarten und die genetische Variabilität sank drastisch. 

Luchs Matthias Sorg
% der genetischen Vielfalt verloren

Gemäss der Fachstelle für Raubtierökologie KORA ­haben die Alpenluchse gegenüber ihren Vorfahren in der Slowakei 46 Prozent der genetischen Vielfalt verloren, jene im Jura 30 Prozent.

Fachstelle für Raubtierökologie KORA

Am besten sieht der ­genetische Zustand bei den Ostschweizer Luchsen aus – diese ­haben dank der im Rahmen des Projektes LUNO statt­gefundenen Umsiedlungen von Alpen- und Juraluchsen und darauffolgenden Verpaarungen wieder eine deutlich ­höhere genetischen Vielfalt ­erlangt. Die verarmte Genetik unserer Luchse hat nicht nur eine reduzierte Anpassungsfähigkeit zur Folge, sondern führt je länger je mehr zu körperlichen Defekten.

Missbildungen und Herzfehler

Jedes sich sexuell fortpflanzende Lebe­wesen erbt für ein Merkmal je eine ­Genvariante (Allel) von Mutter und Vater. Dabei setzen sich dominante gegenüber rezessiven Allelen durch und führen zur Ausprägung der jeweiligen Eigenschaft, etwa der Augenfarbe. Solange die genetische Vielfalt eines Tierbestands gross ist, sind die Kombinationsmöglichkeiten der Allele schier endlos. Rezessive Allele mit schädlicher Erbinformation werden meist durch dominante Gene überlagert und haben darum keine Auswirkung. In ­einem genetisch verarmten Bestand aber steigt das Risiko, dass solche Genvarianten auf «ihresgleichen» treffen und zur Ausprägung kommen. 

Bei den Luchsen in der Schweiz scheint genau dies nun zu passieren: Seit einigen Jahren werden im Rahmen des Luchsmonitorings und von Fängen für Umsiedlungen Luchse mit medizinischen Auffälligkeiten beobachtet. Bei 58 Prozent der Alpenluchse und 23 Prozent der Juraluchse werden auffällige Herzgeräusche festgestellt. Pathologisch untersuchte ­Tiere weisen Herznarben auf. Und kürzlich wurden im Jura ohrenlose Luchse entdeckt. Beunruhigend: Der Luchs­bestand in Slowenien wies wenige Jahre vor seinem katastrophalen Zusammenbruch ebenfalls Auffälligkeiten an Herz und Ohren auf. Bekannt ist zudem ein Zusammenhang zwischen Inzucht und Anfälligkeit für Parasiten, geringerem ­Geburtsgewicht und reduzierter Fruchtbarkeit. Könnte es sein, dass auch der Schweizer Luchsbestand einbricht – wie es in Slowenien in den letzten zehn Jahren der Fall war, und nun der dringenden Rettung bedarf?

«Blutauffrischung» nötig

Der Bund hat sich mit der Strategie Biodiversität Schweiz dazu bekannt, die genetische Vielfalt der heimischen Wildtiere erhalten und den Fortbestand national prioritärer Arten – dazu gehört der Luchs – sichern zu wollen. Expertinnen und Experten sind sich einig: Der Schweizer Luchsbestand muss durch Ansiedlung von Luchsen aus dem Ausland genetisch gestützt werden. Eine einmalige Aussetzung reicht dazu nicht – es bedarf eines langjährigen, kontinuierlichen Engagements mit wiederholten Aussetzungen, damit die Massnahme Aussicht auf Erfolg hat. 

Luchs im Solothurner Jura Matthias Neuhaus

Die Jagdverordnung (JSV) bietet mit Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit, dass Tiere geschützter Arten, die in ihrem Bestand bedroht sind, ausgesetzt werden, sofern ein genügend grosser Lebensraum vorhanden ist.

Geeignete Luchse für eine Ansiedlung könnten aus mehreren Quellen stammen: Wildfänge aus den Karpaten, Austausch von Luchswaisen mit dem Ausland sowie Jungtiere aus dem Erhaltungszuchtprogramm der Zoos, die speziell zum Zweck der Auswilderung aufgezogen werden. Jedoch müssen sich zuerst Kantone finden, die bereit sind, neue Luchse willkommen zu heissen. Manche Kantone könnten eine vorgängige Dezimierung des bestehenden Luchsbestands zur Voraussetzung machen – um die ­Gemüter luchskritischer Jäger und Nutztierhalterinnen zu besänftigen. Auch sei eine vorgängige «Entnahme» anwesender Luchse nötig, um für die anzusiedelnden Tiere Reviere zu öffnen und ihre Fortpflanzungschancen zu erhöhen. Für eine solche Massnahme fehlt derzeit jedoch die gesetzliche Grundlage. 

Keine Regulierung «hintenrum»

Pro Natura ist gegen eine Luchsregu­lierung über die «Hintertür» der gene­tischen Bestandsstützung. In einzelnen Fällen mag das Wegfangen (und Umsiedeln) eines Einzeltieres sinnvoll sein, ehe im Gebiet ein neuer Luchs ausgesetzt wird. Die Massnahme soll aber nicht zu einer Verkleinerung des Luchsbestands führen. Es gibt zudem in den Ost- und Südalpen noch genug geeignete, luchsfreie Lebensräume, wo man neue Tiere am Rand des bestehenden Luchsgebiets ansiedeln könnte. 

Ein Hoffnungsschimmer ist die im Schwarzwald für Herbst 2023 geplante Freilassung mehrerer Luchsweibchen, die sich mit den dort ansässigen Luchsmännchen verpaaren sollen. Nun ist es am Bund, die – auch international von Luchsexpertinnen und -experten geforderten – Massnahmen in die Wege zu leiten, um die genetische Rettung unserer Luchse in Angriff zu nehmen. Pro Natura wird sich – im Verbund mit weiteren Naturschutz­organisationen und Stakeholdern – dafür einsetzen, dass Bewegung in diese Bestrebungen kommt. 

SARA WEHRLI betreut bei Pro Natura das Dossier Grosse Beutegreifer.

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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