Alpe del Lago TI Matthias Sorg
17.10.2025 Landwirtschaft

Ein offenes Ohr für die Bergbauern

Die Tessinerin Silvia Gandolla ist beim WWF für Grossraubtiere zuständig und soll in ihrem Kanton dafür sorgen, dass Wolf und Viehzüchter besser nebeneinander existieren können – eine heikle Aufgabe, denn sie erfordert zuallererst einen offenen und konstruktiven Austausch.

«Die Diskussion muss unbedingt entpolarisiert werden», sagt Silvia Gandolla und bezeichnet den Dialog als wichtigste Voraussetzung im Umgang mit dem Wolf. Seit drei Jahren ist die Biologin südlich der Alpen um ein reibungsloseres Zusammenleben zwischen dem Wolf und den Bergbauern bemüht. Das ist alles andere als einfach: Die Polemik wächst, ebenso wie das Unverständnis zwischen Stadtbewohnern und Viehzüchterinnen, zwischen Wolfsbefürwortern und Wolfsgegnern, zwischen Verfechterinnen strenger Regulierung und Naturschützern. 

Die Erfahrungen der Grossmutter 

Doch Silvia Gandolla hat einen Vorteil: Zwar freut sie sich über die Rückkehr des Beutegreifers in die Schweiz, ist aber aufgrund ihrer Familiengeschichte für die Argumente der Viehzüchter besonders empfänglich. «Meine Grossmutter wuchs in Cerentino auf, einem kleinen Bergdorf, das von der Selbstversorgung lebte. Sie selbst hatte Kühe und Ziegen. Bekanntschaft mit einem Wolf hat sie zwar nie gemacht, ihre Grosseltern aber hatten ihr von schrecklichen Angriffen erzählt. Für sie war die Ausrottung des Wolfes eine grosse Errungenschaft. » Während ihres Studiums fühlte sich Silvia Gandolla zwischen den Erfahrungen ihrer Vorfahren und ihren eigenen Überzeugungen hin- und hergerissen: «Damals hatte ich sehr radikale Vorstellungen vom Naturschutz. Aber mein Engagement für den Wolf war gewissermassen auch ein Verrat an meiner Grossmutter.»

Schafe Matthias Sorg

Zwei Herzen in der Brust 

Dass sie zwei Herzen in der Brust trägt, hilft ihr heute bei Gesprächen mit Bauern. Zumal Gandolla selbst Hühner und Esel besitzt und nach eigenem Bekunden nicht weiss, wie sie reagieren würde, wenn ein Wolf ihre Tiere angreifen würde. «Wenn die Bauern merken, dass ich die Beziehung zu ihren Tieren verstehe, hören sie gerne zu – mehr, als wenn ich aus der Stadt käme, um sie zu belehren.» Gandolla hilft zudem jeden Sommer auf einer Alp mit. «Während einiger Tage lebe ich im dortigen Rhythmus, das wirkt gesprächsfördernd, vor allem beim Abendessen nach dem Arbeitstag.» 

Präsenz des Wolfs akzeptieren 

Als der WWF die Leitung des Dossiers «Wolf» im Tessin Silvia Gandolla anvertraute, liess er ihr freie Hand. Es war an ihr, Wege zu finden, damit Wolf und Viehzüchter besser miteinander klarkommen. Sie lernte schnell, dass ihre Rolle nicht darin bestand, den Wolf zu schützen: «In diesem Bereich arbeiten schon genug Leute», sagt sie. Ihre Aufgabe bestand vielmehr darin, den Bauern zu helfen, die Anwesenheit des Wolfes zu akzeptieren. 

Dieser Prozess dauert lange – doch bereits an ihrem ersten Arbeitstag erhielt Gandolla den Anruf einer Bäuerin, die für den Schutz ihrer Herde finanzielle Hilfe erbat. Es wurde ein Termin für den nächsten Tag vereinbart. «Einen ganzen Nachmittag lang haben wir uns unterhalten», erinnert sich Silvia Gandolla. «Die Bäuerin schätzte sehr, dass ihr zugehört wurde. Wir sprachen beide offen und mit viel gegenseitigem Respekt. Auch wenn sie weiterhin gegen den Wolf ist, ist ihr klar, dass es kein Zurück mehr gibt – der Wolf ist jetzt einfach da – und man muss sich an die neuen Gegebenheiten anpassen.»

Wolf im bayrischen Wald iStock

Zuhören – das ist das Zauberwort auf Gandollas Mission. Selbst wenn es bedeutet, dass sie gelegentlich den Zorn ihrer Gesprächspartner zu spüren bekommt, wie im Fall eines wütenden Landwirts, dessen Herde gerade einen heftigen Wolfsangriff erlitten hatte. «Ich habe ihn eine Stunde lang zetern lassen. Am Ende sagte er mir, es sei dies das erste Mal, dass ihn der WWF um seine Meinung gebeten habe, und dass er das Vorgehen begrüsse. Für mich ist es sehr wichtig, dass mein Gegenüber das Gefühl hat, gehört zu werden. Sonst führt das Ganze nur zu noch mehr Frustration: Die Betroffenen fühlen sich genötigt, eine neue, für sie unangenehme Realität zu akzeptieren – bloss mitreden dürfen sie nicht. Das kann zu heftigen Reaktionen führen, was die Polemik anheizt. Wir geraten so in einen Teufelskreis.» 

Darum wurde ein System mit Runden Tischen eingerichtet mit dem Ziel, vor allem auch die Bauern zu Wort kommen zu lassen. «Wir haben unter anderem einen gemeinsamen Abend organisiert, um Erfahrungsberichte zusammenzutragen. Dort konnten die Bauern ungefiltert von den Angriffen erzählen, die sie erlebt hatten, über den Schmerz, den sie empfanden, und über die Depression, in die einige von ihnen gerutscht waren. In der Runde anwesend war auch ein Psychologe, der die Gefühle der Betroffenen validieren konnte.» 

Patentlösung gibt es nicht 

So konnte eine Beziehung des Vertrauens und des Respekts aufgebaut werden. In der Folge fanden weitere Treffen statt, in die auch Biologen sowie Vertreter des Kantons und der betroffenen Gemeinden einbezogen wurden. «Wir müssen alle gemeinsam pragmatisch über einen neuen Ansatz nachdenken. Eine Patentlösung gibt es nicht, und die Realität ist von Tal zu Tal verschieden. In einigen Fällen funktioniert der Schutz nicht, dann muss man regulativ eingreifen. Und es kann nicht einfach nur darum gehen, die Viehzüchter davon zu überzeugen, ihre Herden besser zu schützen. Auch die Bevölkerung muss akzeptieren, dass in den Bergen Herdenschutzhunde eingesetzt werden. Hier ist es die Aufgabe der Tourismusverantwortlichen, Wanderer und Velofahrerinnen aufzuklären, die teilweise auf Empörung machen, wenn sie mal absteigen müssen, um eine Weide zu queren.» 

Was Silvia Gandolla besonders sauer aufstösst, sind radikale Positionen jeglicher Art. «Wir müssen aufhören, immer gleich mit dem Finger auf die Bauern zu zeigen. Auch in den sozialen Medien werden Bauern teilweise aufs Schärfste angegriffen. Militante Wolfsfreunde richten aber genauso viel Schaden an wie militante Wolfsgegner.» 

Tania Araman, Redaktorin Pro Natura Magazin

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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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