Am Ufer des Neuenburgersees bei Yverdon-les-Bains gelegen, ist das Pro Natura Zentrum Champ-Pittet das Tor zum größten Seeuferfeuchtgebiet der Schweiz.
«Konsequenter Herdenschutz ist wirksam, aber nicht immer möglich»
Daniel Mettler ist ein Pionier des Herdenschutzes in der Schweiz. Im Interview erklärt er, warum es 2003 zur Gründung einer «Wolfsfeuerwehr» kam, wie der Herdenschutz heute aufgestellt ist und wo es noch Defizite gibt.
Pro Natura Magazin: Im Sommer 1995 wurden im Val Ferret und auch im benachbarten Val d’Entremont Dutzende Schafe gerissen. Genetische Analysen von zwei Kotproben deuteten auf zwei männliche Wölfe hin, die aus den Abruzzen stammten, einem Gebirge östlich der Stadt Rom. War damals bereits abzusehen, dass der Wolf gekommen war, um zu bleiben?
Daniel Mettler: Ja, mit Blick auf die Entwicklung in Italien war damit zu rechnen. In den Abruzzen konnte sich eine kleine Wolfspopulation mit rund 100 Tieren dank der Unterschutzstellung des Wolfs in Italien ab 1973 vergrössern und gegen Norden ausbreiten. Ende der 1980er-Jahre erreichte diese Population dann die italienischen und die französischen Alpentäler. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis der Wolf auch Schweizer Territorien erschliesst.
Die Schweiz schien auf diese Rückkehr überhaupt nicht vorbereitet zu sein. 2003 stellten Sie im Auftrag des Bundesamts für Umwelt (Bafu) eine mobile Eingreifgruppe mit Hirten, Schutz- und Hütehunden auf die Beine – eine «Wolfsfeuerwehr», wie Sie die Einheit nannten.
Man muss bedenken, dass der Wolf in der Schweiz seit 150 Jahren nicht mehr sesshaft war. Auf vielen Alpen herrschte freier Weidegang, Hüte- und Herdenschutzhunde sah man höchst selten. Als sich dann die Rückkehr des Wolfs abzeichnete, wurde das Thema von der Landwirtschaft eher verdrängt. Sie stellte sich nicht auf ein Zusammenleben mit dem Wolf ein. Lange Zeit galt das Credo: Wölfe kann man ja wegschiessen oder notfalls wechselt man halt die Alp. Es gab aber auch einige Pioniere, die schon früh Herdenschutzmassnahmen umsetzten und damit den Weg für die anderen aufzeigten.
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Lange Zeit galt das Credo: Wölfe kann man ja wegschiessen oder notfalls wechselt man halt die Alp. Es gab aber auch einige Pioniere, die schon früh Herdenschutzmassnahmen umsetzten und damit den Weg für die anderen aufzeigten.
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Daniel Mettler (53) leitet seit 2004 die nationale Fachstelle Herdenschutz bei der Agridea.
Von wem liessen sich diese Pioniere inspirieren?
Sie konnten auf Erfahrungen aus Italien, Spanien und Frankreich aufbauen, wo im Unterschied zur Schweiz die Weidewirtschaft mit Behirtung und Schutzhunden kulturell verankert ist. Der Westschweizer Biologe Jean-Marc Landry begann Ende der 1990er-Jahre Schutzhunde aus Frankreich zu importieren. Eingesetzt wurden die Hunde zuerst im Kanton Waadt – um Schafherden vor Luchsangriffen zu schützen.
Was war passiert?
In den Nordwestalpen wuchs die Luchspopulation Anfang der 1990er-Jahre rapide an – als Folge einer wachsenden Rehpopulation, die von mehreren aufeinanderfolgenden milden Wintern profitierte. Als sich der Rehbestand in den Folgejahren wieder auf das frühere Niveau einpendelte, wuchsen die Schäden bei Schafen und Ziegen markant an. Dank einem wissenschaftlich fundierten Luchs-Management, das unter genau definierten Voraussetzungen auch legale Entnahmen vorsieht, ist es gelungen, das Zusammenleben zwischen Mensch und Luchs deutlich zu verbessern. Die heute gut funktionierende Koexistenz zwischen Luchs und Mensch kann ein Vorbild sein für das Zusammenleben mit dem Wolf.
Der Wolf ist aber um einiges herausfordernder: Die Reproduktionsraten sind höher, und der Wolf geht auch auf offenen Flächen auf Beutejagd. Flächen, die die Landwirtschaft nutzt.
Die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass der Wolf in der Schweiz in erster Linie den Hirschbeständen folgt. Das lässt sich aktuell etwa im Jura beobachten, wo der Hirschbestand in den letzten Jahren stetig gewachsen ist. Als Opportunist erbeutet der Wolf aber auch Nutztiere. Mit gutem Schutz lassen sich die Verluste deutlich senken. Zu den Reproduktionszahlen: Ja, diese sind beim Wolf wesentlich höher als beim Luchs. Pro Jahr bringt er vier bis acht Welpen zur Welt. Das bedeutet aber nicht, dass ohne Regulation bald Tausende oder gar Zehntausende Wölfe in der Schweiz leben. Im ostdeutschen Sachsen etwa oder in den Abruzzen lässt sich beobachten, wie sich ein Gleichgewicht einstellt, sobald die geeigneten Territorien besetzt sind. Die Rudel verteidigen ihre Reviere.
In der Schweiz werden ganze Rudel entnommen, bevor sich überhaupt ein solches Gleichgewicht einstellen kann.
Der Wolf hat sich hier seit 2019 stark ausgebreitet. Dieses Tempo hat das Management zeit- und gebietsweise überrumpelt. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir langfristig ein Zusammenleben hinbekommen. Es braucht aber mindestens zwei Generationen, bis der Herdenschutz kulturell verankert ist. Die erste Generation hat nun ihre Arbeit geleistet. Heute werden viel mehr Schafalpen behirtet und geschützt als noch zur Jahrtausendwende. Ein wichtiger Faktor für diese Entwicklung war die neue Sömmerungsbeitragsverordnung, die zu Beginn der 2000er-Jahre in Kraft trat. Sie führte finanzielle Anreize ein, um von der Standweide zur Praxis der Behirtung zu wechseln. Auch die Beiträge an den Herdenschutz wurden ausgebaut.
Ist der Herdenschutz wirksam?
Ja, konsequenter Herdenschutz ist wirksam. Aber er ist nicht immer und überall möglich. Die Effizienz des Herdenschutzes ist abhängig von der Herdenführung. Der Schutz mit Herdenschutzhunden und Zäunen funktioniert umso besser, wenn die Herde kompakt geführt wird. Dies ist im hochalpinen, teils sehr anspruchsvollen Gelände und bei schlechten Wetterbedingungen schwierig, bisweilen unmöglich. Aber auch aus ökologischer Sicht ist zu überlegen, ob man die sensiblen hochalpinen Lebensräume – etwa in Gletschervorfeldern – weiterhin beweiden will oder ob es vom Futterangebot her Alternativen auf Nachbaralpen oder tiefer gelegenen Weiden gibt.
Zuletzt mehrten sich Risse in den Frühjahrs- und Herbstweiden auf der Maiensäss-Stufe. Müssen diese künftig auch durch Hunde beschützt werden?
Im Vergleich mit den Rissen im Sömmerungsgebiet fallen die Risszahlen in den Frühlings- und Herbstweiden nach wie vor weniger ins Gewicht. Aber das kann sich ändern – und wir sollten uns heute schon überlegen, wie sich diese Weiden effizient schützen lassen. In einigen Gebieten wird dies bereits getan.
Die grossen Schutzhunde machen vielen Leuten Angst. Und die Touristiker kritisieren, dass beliebte Wanderwege und Biketrails durch die Hunde «unterbrochen» sind.
Der Wolf ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft, nicht nur für die Landwirtschaft. Ohne Herdenschutzhunde ist eine Koxistenz nicht möglich. Doch die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Hunde ist tatsächlich ein Knackpunkt. Herdenschutzhunde arbeiten selbstständig und sind mehrheitlich nicht unter Kontrolle des Menschen. In der Schweiz sind wir uns diese Art von Hunden nicht gewohnt. Sie erscheinen unkalkulierbar, weil sie nicht dem gängigen Hundebild entsprechen.
Welche Kriterien müssen die Schutzhunde erfüllen, damit sie zugelassen werden?
Ihre Aufgabe ist es, den Wolf abzuwehren. Zugleich müssen sie herdentreu gegenüber dem Kleinvieh und nicht aggressiv im Umgang mit den Menschen sein. Zusätzlich sollen sie grundlegende Kommandos der Hirten und Hundebesitzer befolgen und eine Stresstoleranz in Situationen von Provokationen und überraschenden Reizen aufweisen. All diese Eigenschaften werden mit Verhaltenstests geprüft.
In den Medien hört man immer wieder von einem langsamen Niedergang der Schaf- und Ziegenalpen. Trifft das zu?
Schaut man sich die Zahlen der gesömmerten Geissen und Schafe an, so hat sich die Situation in den letzten Jahren stabilisiert, nachdem die Bestände ab der Jahrtausendwende rückläufig waren. Zugleich fand eine strukturelle Veränderung hin zu grösseren, behirtbaren Alpen statt. Auf den kleineren und schwer zugänglichen Alpen nehmen die Bestände tendenziell ab. Zu beobachten ist auch, dass die Verbuschung in peripheren Lagen voranschreitet. Ein hoher Anteil an Sträuchern reduziert die Biodiversität auf den Flächen. Insbesondere die Ausbreitung der Grünerle ist problematisch. Sie fixiert Stickstoff aus der Luft, verringert so die Vielfalt von Arten und Strukturen. Die Beweidung mit Schafen oder Ziegen kann einen wichtigen Beitrag für die Biodiversität leisten. Voraussetzung ist, dass sie optimal den sehr unterschiedlichen Standorten angepasst wird.
Nicolas Gattlen, Reporter Pro Natura Magazin
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Info
Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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