«Goldgräberstimmung» bedroht Gletschervorfelder
Der Gletscherschwund nimmt weiter Fahrt auf, und schon in wenigen Jahrzehnten ist das ewige Eis unserer Gebirge grösstenteils Geschichte. Zurück bleiben die eisfreien Flächen – Zeugen der Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, den Klimawandel auf ein erträgliches Mass zu begrenzen.
Die tauenden Gletscher hinterlassen aber nicht nur karge Felslandschaften, sondern, je nach Lage, Naturräume von unschätzbarem Wert. Gletschervorfelder, die mitunter schon seit 1850 vom Eis freigegeben wurden, sind dynamisches Neuland, wo sich die Natur entfalten und ein farbenprächtiges Mosaik unterschiedlichster Lebensräume entstehen kann: von Gletscherseen über Deltas und Moorflächen bis hin zu alpinen Auen und Schwemmebenen. Das im Frühjahr und Sommer abfliessende Schmelzwasser ist das prägende Element, das diese einzigartigen Gewässerlandschaften formt, belebt und verändert.
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Raphael Weber
Neue Lebensräume und Rückzugsgebiete
Gletschervorfelder bieten Lebensraum für eine Vielzahl seltener Pflanzengesellschaften, die sich in verschiedenen Sukzessionsstadien befinden. Darunter sind seltene Arten, die an kühle Temperaturen gebunden sind. Auch zahlreiche bedrohte Tierarten, insbesondere aquatische Wirbellose, profitieren von diesen Lebensräumen. Mit dem Klimawandel und der zunehmenden Erwärmung der tieferen Lagen sind kältebedürftige Arten gezwungen, in höhere Lagen abzuwandern, um weiter bestehen zu können. In den Gletschervorfeldern finden sie einen Zufluchtsort. Studien zeigen, dass in den europäischen Alpen über 2000 Pflanzen-, Pilz- und Tierarten ihre Verbreitung aufgrund steigender Temperaturen bereits in höhere Gebiete verlagert haben.
Ihre unberührte Schönheit und Dynamik machen die Gletschervorfelder zu ursprünglichen Orten, die in der vom Menschen stark beeinflussten Landschaft der Schweiz rar geworden sind. Ihre Abgeschiedenheit – oft sind die Gebiete nur durch mehrstündige Wanderungen erreichbar – trägt zu ihrem Schutz bei.
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Raphael Weber
Kriterien erfüllt – und trotzdem ungeschützt
Im politischen Ringen um die Energiewende wird der landschaftliche und ökologische Wert allerdings oft übersehen oder ganz bewusst übergangen. Es droht darum die Zerstörung dieser Lebensräume, noch bevor eine gesellschaftliche Debatte über ihren Schutz stattgefunden hat. Aktuelle Gesetze ermöglichen es, dass wertvolle Gletschervorfelder für neue Wasserkraftprojekte eingestaut werden können, obwohl sie die Kriterien für eine Aufnahme in das Aueninventar erfüllen. Das Bundesparlament hat 2023 entsprechende Regelungen verabschiedet, die den Bau von Wasserkraftanlagen auf diesen Flächen ermöglichen, sofern sie nicht bis zum 1. Januar 2023 im Aueninventar aufgenommen waren.
Die Begründung ist oft dieselbe: Winterstrom. Das greift aber zu kurz. Erstens haben wir bereits grosse Speichervolumen in den Bergen, und zweitens gibt es Ausbaumöglichkeiten an bestehenden Stauseen, die ohne grosse neue Eingriffe umsetzbar wären. Vielfach sind solche Vorhaben aber blockiert. Nicht aus Gründen des Naturschutzes, sondern weil die Kantone die Werke in absehbarer Zeit übernehmen (Heimfall) und die Betreiber darum nicht mehr investieren wollen. Zu beachten ist auch, dass die Strommenge, die aktuell in nicht einmal vier Monaten durch neue Solaranlagen auf bestehenden Infrastrukturen zugebaut wird, dem jährlichen Stromertrag eines neuen Stausees in der Grösse von Zervreila entspricht. Ein Viertel dieses Solarstroms ist Winterstrom und vielfach sogar günstiger als Strom aus neuen Wasserkraftwerken.
Balance zwischen Schutz und Nutzung
Es gilt darum, eine ausgewogene Balance zwischen Schutz und Nutzung zu finden und zu verhindern, dass diese kostbaren Lebensräume unwiederbringlich zerstört werden. Die Gletschervorfelder sind nicht nur ein Erbe (und Mahnmal) der Vergangenheit, sondern eine einmalige Chance für unsere Natur und Artenvielfalt.
Michael Casanova betreut bei Pro Natura die Dossiers Energiepolitik und Gewässerschutz.
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Raphael Weber
«Das ist ein ideales Freilandexperiment»
Die emeritierte Innsbrucker Geobotanik-Professorin Brigitta Erschbamer forschte ab
den 1990er-Jahren über Pionierpflanzen im Hochgebirge, hauptsächlich im Gletschervor-
feld des Rotmoosferners im Tiroler Ötztal.
Pro Natura Magazin: Frau Erschbamer, was ist die besondere ökologische Bedeutung von Gletschervorfeldern?
Brigitta Erschbamer: In Gletschervorfeldern findet die Besiedelung durch Pflanzen von null an statt. Das heisst, wir können von Beginn an verfolgen, wie sich eine neue Pflanzengemeinschaft bildet. Das ist eine Art ideales Freilandexperiment. Nach 40 bis 50 Jahren Eisfreiheit ist ein Maximum an Arten erreicht. Dann pendelt sich die Artenzahl pro Fläche langsam ein. Es kommen noch Arten dazu, aber die Pionierarten verschwinden.
In 40 bis 50 Jahren werden leider die meisten Gletscher in den Alpen verschwunden sein, ausser in wenigen Hochlagen.
Wir sehen jetzt schon, dass im Zuge des Klimawandels die Entwicklung immer rascher geht. Vor 50, 60 Jahren hatten wir noch Zeiträume von 5 bis 10 Jahren, bis sich Pflanzen auf diesen neuen Gletschervorfeldern ansiedelten. Jetzt beobachtet man schon nach einem Jahr Eisfreiheit bereits die ersten Pflanzen. Je tiefer hinab sich ein Gletschervorfeld zieht, desto stärker und schneller gehen die Veränderungen vor sich, bis hin zu einer Wiederbewaldung. Bei Ihnen in der Schweiz kommt da oft die Lärche ins Spiel.
In der Schweiz beschäftigt uns als Naturschutzorganisation die Vielzahl an Ideen für neue Stauseen im Bereich wachsender Gletschervorfelder. Wie ist das in Österreich?
Ja, diese Diskussion gibt es natürlich auch hier in Tirol. Da wird aufgrund der Rechtslage oft um die Definition eines Gletschervorfeldes gerungen. Ist es noch ein Gletschervorfeld, wenn es durch Ereignisse wie Murgänge überformt worden ist …
… weil in Österreich ein Gletschervorfeld eigentlich per se ein geschützter Lebensraum ist …
… ja, theoretisch schon. Aber die unterschiedlichen Begehrlichkeiten haben zu einer vagen Definition geführt, was überhaupt noch ein Gletschervorfeld ist und was nicht mehr.
Was wären denn aus Ihrer Sicht Kriterien, die unbedingt für den Schutz eines Gletschervorfeldes sprechen?
Ganz gleich, ob da irgendwelche Überprägungen durch Muren oder Überschwemmungen sind: Ein Gletschervorfeld muss als Ganzes gesehen und unter Schutz gestellt werden. Die Diskussion erübrigt sich, wenn man diese Gebiete in ihrer ausserordentlichen ökologischen Bedeutung anerkennt. Zum Beispiel für Hochgebirgspflanzen, die im Klimawandel hier ihre letzten Rückzugsräume haben könnten. Und wo sonst sieht man die Entstehung von Lebensräumen und Artengemeinschaften so wie in einem Gletschervorfeld? Nirgends! Darum sind diese Lebensräume, gerade auch die Pflanzengesellschaften entlang der Gletscherbäche, auf höchster EU-Ebene geschützt. Sie sind schlicht einmalig und unersetzlich.
Apropos Gletscherbäche: Eine Erkenntnis aus Ihrer Forschung hat mich überrascht. In einem Gletschervorfeld können Jungpflanzen auch verdursten, las ich bei Ihnen.
Ja, unsere Experimente zeigten, dass zwei Faktoren entscheidend sind für die Ansiedlung von Pflanzen, nämlich – nicht überraschend – die Verfügbarkeit von Samen, aber eben auch die Trockenheit. Auf den oft sandigen Böden vor Ort können längere Trockenheitsperioden die Ansiedlung von Pflanzen lange hinauszögern oder gar verhindern. Mit dem Klimawandel verschärft sich auch dieser Effekt.
Rico Kessler, Redaktor für das Pro Natura Magazin
Weiterführende Informationen
Info
Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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