Lebensraum Wald Pro Natura
14.08.2025 Wolf, Luchs, Bär

«Inzucht ist zunehmend ein existenzielles Problem»

Der Schweizer Luchsbestand ist genetisch am Limit, die Vernetzung mit den anderen Populationen in Europa funktioniert noch nicht. Im Interview erklärt Kristina Vogt, Wildtierbiologin bei der KORA, wie sich die Situation verbessern liesse.

Seit rund 50 Jahren streifen wieder Luchse durch die Schweiz. Wie steht es um die Akzeptanz des Luchses bei Landwirtschaft und Jagd?  

Kristina Vogt: Bei der Landwirtschaft ist der Luchs kaum noch ein Thema. In den 1990er-Jahren gab es grössere Konflikte, vor allem mit der Jägerschaft. Das hat sich stark beruhigt. Jäger haben sich an die Anwesenheit des Luchses gewöhnt und akzeptieren ihn als einheimischen Beutegreifer. Die Daseinsberechtigung wird ihm nicht mehr abgesprochen, es gibt auch Jäger, die sich über den Luchs freuen und uns Luchsbeobachtungen melden. Diskussionen gibt es aber zur Frage, welche Bestandsdichte «angemessen» ist. Da gehen die Meinungen nach wie vor auseinander.

Der Luchsbestand hat sich in den letzten 25 Jahren auf rund 300 Tiere vervierfacht. Ist der Bestand damit für die Zukunft gesichert?

Mit den dreihundert Tieren sind wir noch nicht auf der sicheren Seite. Die Vernetzung mit den anderen Populationen in Europa funktioniert noch nicht, der Bestand ist sehr isoliert. Weil er aus nur wenigen Gründertieren hervorgegangen ist, die noch dazu zum Teil untereinander verwandt waren, ist die genetische Vielfalt tief und Inzucht zunehmend ein existenzielles Problem. Ohne genetische Vielfalt kann sich der Luchs nur schwer an veränderte Umweltbedingungen oder an neue Krankheitserreger anpassen. 

Luchs in der Nacht Matthias Neuhaus

Das typische Merkmal des Luchses sind seine Pinselohren. Vor ein paar Jahren wurden im Jura drei Luchse ganz ohne Ohren fotografiert.

Mittlerweile sind praktisch alle Schweizer Luchse mehr oder weniger stark miteinander verwandt. Durch diese Inzucht steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich zwei verwandte Tiere miteinander paaren, welche beide die gleiche zufällige Mutation, wie zum Beispiel fehlende Ohren, tragen. Entsprechende Missbildungen sind dann zwangsläufig bei den Nachkommen sichtbar. Noch bedenklicher ist aber die Ausbreitung von Herzproblemen. Im Rahmen eines Projekts in Zusammenarbeit mit dem Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit FIWI der Universität Bern untersuchen wir zurzeit die Genetik und Gesundheit der Luchse.

Gibt es erste Resultate? 

Zwei Drittel der untersuchten Alpenluchse weisen ein abnormales Herzgeräusch auf. Es gibt Hinweise darauf, dass es sich um eine vererbliche Herzkrankheit handelt. Wir haben auch festgestellt, dass stärker ingezüchtete Jungtiere schlechter überleben.

Das klingt dramatisch. Was schlägt die Wissenschaft vor, um die Situation zu verbessern? 

Vonseiten KORA und FIWI empfehlen wir dringend, den Bestand mit Luchsen aus den Karpaten genetisch aufzufrischen. Auf internationaler Ebene brauchen wir zudem eine Vernetzung aller mitteleuropäischen Vorkommen und als Fernziel eine Vernetzung mit der Ursprungspopulation in den Karpaten bzw. in der Slowakei, der Ukraine und Rumänien. Dieser Bestand ist der Einzige in ganz Mitteleuropa, der nie verschwunden ist und eine hohe genetische Vielfalt aufweist. Alle anderen Populationen sind ausgestorben und gehen auf Wiederansiedlungen weniger Tiere aus den Karpaten zurück. 

Luchsjungen in der Nacht Matthias Neuhaus

Ist der Schweizer Bestand zurzeit gar nicht mit dem Ausland vernetzt? 

Der Schweizer und der französische Jura bilden eine durchgehende Population, wobei alle Tiere in Frankreich ursprünglich aus der Schweiz eingewandert sind. Einzelne, meist männliche Luchse aus der Schweiz wandern auch ins umliegende Ausland ab, z. B. in die Vogesen, den Schwarzwald oder nach Vorarlberg. Im Schwarzwald läuft zurzeit ein Projekt zur Aufstockung des Bestands mit Tieren aus dem Europäischen Erhaltungszuchtprogramm der EAZA (European Association of Zoos and Aquaria). Die kleine isolierte Luchspopulation in den österreichischen Kalkalpen pflanzt sich zurzeit gar nicht fort und droht zu erlöschen.

Wie erreichen wir die Ziele der Wissenschaft? 

Es gibt eine Arbeitsgruppe der Kantone, die sich mit dem Thema beschäftigt. Wir von KORA und FIWI sind in beratender Funktion dabei, ebenso die Jagdinspektoren und das BAFU. Es geht um die Planung konkreter Massnahmen.

Von welchem Zeithorizont sprechen wir? 

Das hängt von den politischen Prozessen und der Akzeptanz ab, aber man sollte keinesfalls zehn Jahre warten. Die genetische und gesundheitliche Situation wird nicht von alleine besser. Es empfiehlt sich, jetzt zeitnah einzugreifen, bevor die Probleme massiv zunehmen.

Luchs in der Dämmerung Matthias Neuhaus

Könnte der Luchs langfristig auch im Mittelland Fuss fassen?

Seit 2013 pflanzen sich Luchse auch im Mittelland fort. Der Luchs ist ein heimliches und anpassungsfähiges Tier, das auch in der Kulturlandschaft gut zurechtkommt. Das Mittelland ist allerdings durch Strassen stark fragmentiert, und viele Luchse werden überfahren oder können sich nicht ausbreiten. Problematisch sind auch Holzarbeiten in der Setzzeit rund um den Bau. Wenn eine Stärkung der genetischen Vielfalt gelingt, sind die langfristigen Perspektiven besser. Schaffen wir es nicht, könnte das zu einer Stagnation oder gar einem Rückgang des Schweizer Bestandes führen.

Gregor Klaus, freischaffender Journalist 

Linking Lynx
Das Netzwerk aus Expertinnen und Experten beschäftigt sich mit der Erhaltung, dem Monitoring und dem Management des mitteleuropäischen Luchses. Ziel ist die Schaffung zusammenhängender Populationen von den Karpaten bis hin zum Jura, den Westalpen und dem Dinarischen Gebirge. Linking Lynx umfasst mehrere Arbeitsgruppen sowie alle geplanten und laufenden Wiederansiedlungs- und Bestandesstützungsprojekte.
https://www.linking-lynx.org/de

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Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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